Der Begriff „Mut“ gehört sicher zu den im heutigen Politikbetrieb meist missbrauchten. Ein typisches Beispiel dazu liefert nun die Unesco in der Begründung für die heute in der Elfenbeinküste vollzogene Auszeichnung Angela Merkels mit ihrem Friedenspreis. „Die gesamte Jury war von ihrer mutigen Entscheidung aus dem Jahr 2015 berührt, mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge insbesondere aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea aufzunehmen“, sagte der Präsident der Jury und Friedensnobelpreisträger 2018, Denis Mukwege, als Begründung für die Wahl Merkels. „Es ist eine Lektion, die sie der Geschichte hinterlässt.“
Ob Merkels damalige Politik wirklich dem Ziel des Unesco-Preises – Förderung, Erforschung oder Sicherung des Friedens – diente, dürfte jenseits der Unesco-Jury nicht als erwiesen gelten. Der Syrienkrieg endete durch Merkels Politik jedenfalls nicht. Und zum sozialen Frieden in Deutschland hat sie damit wohl ebenso wenig beigetragen wie zur inneuropäischen Verständigung. Im Gegenteil, gerade vor dem anstehenden EU-Gipfel am Donnerstag wächst wieder der Zorn vieler EU-Staaten gegen die seit 2015 fortgeführte Weigerung Deutschlands, eine restriktivere Migrationspolitik mit zu tragen.
Noch eindeutiger zu beantworten ist die Frage, ob Merkels Entscheidung von 2015 wirklich „mutig“ war, wie die Unesco-Jury angeblich überzeugt ist.
Hat Merkel in jenem Herbst also wirklich mutig gehandelt? Drohte ihr persönlich also durch ihr damaliges Handeln oder vielmehr ihr Verweigern eines emigrationsbegrenzenden Handelns eine erhöhte Gefahr (für sie persönlich oder auch nur für ihre Amt)? Musste sie eine persönliche Furcht oder gar Angst überwinden? Wäre es für sie also bequemer und für den Machterhalt günstiger gewesen, wenn sie damals ganz anders gehandelt hätte, also in jenen Spätsommertagen eindeutige Signale der Grenzsicherung und des Nicht-Willkommens an die Migrationswilligen auf der Balkanroute und in den Herkunftsländern gesendet hätte?
Nicht einmal Merkel selbst hat sich damals zunächst besonderen Mut attestiert. „Nun sind sie halt da“, soll sie in der Fraktion gesagt haben. Erst danach interpretierte sie dieses fatalistische Laufenlassen dann in ein aktives „Wir schaffen das“ um.
Für Merkel und ihre Mitregierenden war mit dieser Entscheidung zum politischen Nichthandeln und Laufenlassen nicht etwa eine erhöhte Gefährdung ihrer Machtstellung verbunden, sondern im Gegenteil: Merkel wurde zur „Kanzlerin der Herzen“, gefeiert von all jenen Medien und gesellschaftlichen Milieus, die der CDU sonst reserviert gegenüberstanden. Für Grünen-nahe Journalisten wie den stellvertretenden Zeit-Chefredakteur Bernd Ulrich ist sie heute noch „eine herausragend gute Politikerin“.
Merkel hat damals nicht etwa einen Kampf aufgenommen, sondern ist im Gegenteil endgültig zu den dominierenden politischen Kräften übergelaufen, die ihre Partei und auch sie selbst noch einige Jahre zuvor zumindest mit Worten („Multikulti ist gescheitert“) bekämpft hatten.
Die Gefahren und das Risiko, das mit Merkels damaliger Politik einhergehen, die schließlich bis heute im Wesentlichen fortgeführt wird, trugen nicht Merkel und die Regierenden. Sondern diejenigen, die für die fiskalischen, gesellschaftlichen und sonstigen Kosten aufkommen müssen, also die Bürger. Die Unesco-Jury hätte, wenn sie denn unbedingt einen Preis für die „mutige Entscheidung“ von 2015 vergeben wollte, diesen eher den Deutschen verleihen sollen.
Um zu ermessen, was „Mut“ von Politikern wirklich sein kann, genügt beispielhaft der Hinweis auf den ersten Unesco-Preisträger von 1991: Nelson Mandela saß für seine Überzeugungen und politischen Ziele jahrzehntelang im Gefängnis. Allerdings erhielten den Preis auch schon andere, die sich als nicht gerade moralisch unfragwürdig erwiesen haben. Zum Beispiel der wegen Korruption verurteilte und abgewählte, nun wiedergewählte brasilianische Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva (2008). Aber auch im Nachhinein als gescheitert Anzusehende wie der französische Präsident François Hollande (2013) wurden schon ausgezeichnet. Weshalb? Daran erinnert sich zu Recht niemand mehr so richtig.