Markus Söder hat mit einem denkwürdigen Wahlkampfauftritt nicht nur das Niveau des aktuellen Wahlkampfes auf einen neuen Tiefpunkt gesenkt. Er lieferte auch ein anschauliches Argument dafür, der weiteren Ausbreitung der Briefwahl mit Skepsis zu begegnen. Zum Ende seiner Rede in Schweinfurt forderte der CSU-Chef, bayrische Ministerpräsident und Beinahe-Kanzlerkandidat der Union die Zuhörer auf:
„Suchen Sie am Wahltag noch einmal durch im Haus, jeden den Sie finden können“, zitiert der Spiegel Söder. Und dann habe er aufgezählt: Mann, Frau, Freundin, Opa, Oma, Onkel, Tante. „Fragen Sie alle: ‚Was möchtest du denn wählen?‘ Und wenn diejenigen sagen: ‚CSU‘, sagen Sie: ‚Sofort mit zum Wählen!‘ Und wenn sie sagen, sie schwanken noch bei einem anderen, sagen Sie: ‚Gute Idee, lass dir noch eine Woche Zeit, die Wahl ist erst nächste Woche.’“ Ein paar Zuhörer hätten gelacht, heißt es. Aber Söder lachte nicht mit, sondern sagte: „Es ist jetzt wirklich ernst“ – und fuhr in seiner Rede fort.
Hinter Söders Schweinfurter Entgleisung steht ein generelles Problem: Die allgemeine Verfügbarkeit der Briefwahl macht das, was Söder und die prominenten Grünen-Freunde vorantreiben, noch viel aussichtsreicher. Durch die Briefwahl ist das Wahlgeheimnis zugunsten einer größeren Wahlbeteiligung aufgeweicht, wenn nicht sogar de facto abgeschafft. In der Wahlkabine ist Oma allein. Zur Briefwahl aber muss sie nicht einmal am Sonntag untergehakt und zum Wahllokal mitgenommen werden. Das „sofort“ in Söders Aufruf kann man da wirklich sofort einfordern: Oma, hier sollst du ein Kreuz machen, sonst hast du mich oder ich dich nicht mehr lieb.
Söder hat sich nicht nur durch die Aufforderung zur Lüge über den Wahltermin womöglich strafbar gemacht. Seine Aufforderung, die eigenen Familienangehörigen abzufragen, wie sie wählen wollen, offenbart sein völliges Unverständnis oder seine Gleichgültigkeit für den Sinn des Wahlgeheimnisses. Es dient nicht nur dem Schutz der Bürger vor dem Staat, sondern auch dem der Bürger als Privatpersonen untereinander.