So geht Parlament: Abgeordnete sind nur ihrem Gewissen unterworfen
Ferdinand Knauss
Die offene Debatte und Abstimmung über die Organspende haben deutlich gemacht, wie trist der Parteienparlamentarismus sonst ist. Der Fraktionszwang verletzt Artikel 38 des Grundgesetzes und lähmt die repräsentative Demokratie.
Was die Bundestagsabgeordneten am Donnerstag in namentlicher Abstimmung über die Organspende entschieden haben, war nicht nur in der Sache beachtlich. Der Vorgang selbst ist es auch.
Die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn entworfene sogenannte „doppelte Widerspruchslösung“ für Organspenden ist im Bundestag gescheitert, also ein Gesetzentwurf eines Mitglieds der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen. Das ist höchst selten in Deutschland. Außergewöhnlich ist wohl auch, dass ein Minister, dessen Entwurf scheitert, dennoch „dankbar“ ist für die „gute Debatte“.
Er hat ja recht. Die Debatte war nicht nur intellektuell anspruchsvoll, sie und die Abstimmung wirkten auch politisch und gesellschaftlich befriedend: Nicht nur sind viele Bürger, die sonst wenig mit den Grünen anfangen können, froh über die von Annalena Baerbock eingebrachte Lösung, die sich schließlich durchsetzte. Erstaunlich ist auch, dass die Debatte ganz ohne die sonst üblichen Beschimpfungen und Sticheleien zwischen AfD-Abgeordneten und dem Rest des hohen Hauses auskam. Es ging um die Sache, um vernünftige Argumente. Wie wohltuend.
Dieser Donnerstag im Bundestag machte deutlich, was die parlamentarische Demokratie eigentlich sein sollte und könnte, und wie trist ihre Wirklichkeit sonst ist. Bundestagsabstimmungen sind in aller Regel höchst langweilige Prozeduren mit vorhersagbarem Ausgang: Die Abgeordneten der Koalitionsparteien stimmen bei Regierungsvorlagen zu, die der Opposition lehnen meist ab, aber das ändert ohnehin nichts. Fast immer finden die Entscheidungen darüber, ob und in welcher Form ein Gesetz in Kraft tritt vor der Abstimmung in der Ministerialbürokratie und innerhalb den koalierenden Parteifraktionen, schließlich im so genannten Koalitionsausschuss statt – oder bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auch noch danach im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat.
Wirklich spannende Wahlgänge gibt es nur, wenn die so genannte „Fraktionsdisziplin“, etwas weniger euphemistisch auch „Fraktionszwang“ genannt, aufgehoben ist – wie eben am Donnerstag. Beides, sowohl der Zwang als auch seine Aufhebung stehen nirgendwo im Grundgesetz und auch nicht in der Geschäftsordnung des Bundestages. Im Gegenteil, sie sind sogar eigentlich verboten. In Art 38 des Grundgesetzes steht nämlich: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Dieser zweite Satz und die tatsächliche, alltäglich in Berlin (und allen Länderparlamenten und natürlich auch in den meisten anderen demokratischen Systemen) vorgeführte Praxis der Gesetzgebung sind wohl der eklatanteste Widerspruch zwischen Verfassungsrecht und politischer Wirklichkeit. Letztlich wird ganz alltäglich in den Parlamenten ein routinierter Verfassungsbruch vollzogen. Die meisten Abgeordneten binden sich de facto immer wieder an Aufträge und Weisungen. Art 38 gegen die Parlamentswirklichkeit – das ist der politische Ort, an dem sich die Parteienherrschaft deutlich offenbart. Und der aktuelle Koalitionsvertrag (der wohlweislich kein juristischer Vertrag sondern eine Vereinbarung ist) hält die Missachtung von Artikel 38 sogar schwarz auf weiß fest: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ Könnte man dann nicht gleich Plenardebatten und förmliche Abstimmungen gleich ganz abschaffen? Das würde immerhin eine Menge Zeit und Geld sparen, wenn die Abgeordneten der Koalitionsparteien doch ohnehin tun müssen, was ihre Fraktionsführungen ausgemacht haben.
In demselben Koalitionsvertrag, nur wenige Zeilen zuvor, steht übrigens unter der Überschrift „Arbeitsweise der Regierung und Fraktionen“ der Absatz: „Wir wollen das Vertrauen in die Demokratie und in unsere staatlichen Institutionen stärken. Im Fall einer Koalitionsbildung werden wir durch unsere Arbeitsweise in der Regierung und zwischen den Fraktionen deutlich machen, dass wir uns als Bündnis der Demokratie für die Menschen in unserem Land verstehen. Wir stärken die Entscheidungsfindung in Bundestag und Bundesrat.“
Man muss schon eine gewaltige Fähigkeit im Ertragen innerer logischer Widersprüche besitzen (oder wohl einfach schon lange Zeit im parteipolitischen Betrieb verbracht haben), um solche Sätze zu formulieren: Die faktische Entmündigung des einzelnen, gewählten Repräsentanten wird mit der Stärkung des Vertrauens in die Demokratie gerechtfertigt.
Angesichts des säkularreligiösen Ranges, den das Grundgesetz in der deutschen Öffentlichkeit einnimmt und zu dem ein gewisser Jürgen Habermas mit seinem inzwischen sakrosankten Begriff des „Verfassungspatriotismus“ wesentlich beigetragen hat, sollte man sich eigentlich wundern, dass dieser Artikel 38, der das Herzstück der repräsentativen Demokratie, nämlich die Parlamentsabgeordneten selbst betrifft, so selbstverständlich im parlamentarischen Alltag missachtet wird.
Die parlamentarische Praxis hat ein durchaus zynisch zu nennendes Verhältnis zu diesem Art 38 entwickelt. Indem sie im Einklang mit dem politischen Journalismus nämlich den Begriff der „Gewissensentscheidung“ nur auf einen Bruchteil der parlamentarischen Abstimmungen bezieht. Im Grundgesetz steht nicht, dass der Abgeordnete „bei einigen Entscheidungen“ nur seinem Gewissen unterworfen ist. Doch in der Praxis ist es so.
Die Bundeskanzlerin selbst hat diesbezüglich eine Art parlamentarisches Gewohnheitsrecht, wenn nicht geschaffen, so doch zumindest für die ihr hörigen Abgeordneten bestätigt. Sie tat dies in einem Interview mit der Frauenzeitschrift Brigitte im Juni 2017, als sie die Frage der „Ehe für alle“ (auch dieser Begriff ist Ergebnis von Framing, es ging nicht um „alle“, sondern um Homosexuelle) zu einer „Gewissensfrage“ erklärte.
Hier zeigte sich die ganze Verlogenheit unserer Parteiendemokratie: Die Kanzlerin gab damit de facto den CDU-Abgeordneten die Erlaubnis, nach ihrer eigenen Ansicht abzustimmen. Damit war – ohne dass das zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit geführt hätte – aber auch deutlich geworden, dass die Abgeordneten dies sonst nicht tun dürfen.
Ein Skandal, der seit Jahrzehnten praktiziert wird, fällt als solcher nicht mehr auf. Bezeichnend dafür, wie normal diese letztlich verfassungswidrige Praxis geworden ist, sind die Reaktionen der Medien und des Politikbetriebs. Zum Beispiel die Reaktion der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung, deren Referent Thomas Reiner damals auf der Website erklärte: „Ganz grundsätzlich üben die Bundestagsabgeordneten ein freies Mandat aus … Allerdings gibt es im parlamentarischen Betrieb eine davon abweichende Praxis. Es herrscht nämlich ein faktischer – nicht formeller – Fraktionszwang oder „Fraktionsdisziplin“. Das heißt, dass Abgeordnete, die sich wiederholt gegen die Parteilinie stellen und anders wählen als vorgegeben, mit parteiinternen Problemen zu rechnen haben. Zum Beispiel könnten sie bei der nächsten Wahl Schwierigkeiten bekommen, einen der begehrten Listenplätze zu ergattern, also von ihrer Partei nicht mehr für den Bundestag aufgestellt zu werden oder sie werden bei der Vergabe besonders interessanter Aufgaben und Posten übergangen. Die Fraktionsdisziplin dient der Spitze der jeweiligen Bundestagsfraktionen dazu, dass die Parteilinie abgesichert und von allen Mitgliedern vertreten wird, also bei Abstimmungen im Sinne der vorher festgelegten Linie einheitlich gewählt wird. So wird gewährleistet, dass die Fraktionen geschlossen abstimmen und mit einer Stimme sprechen. Meistens unterwerfen sich die Abgeordneten freiwillig der Mehrheitsmeinung und damit der Disziplin.“
Besser kann man das nicht erklären. Bezeichnenderweise ist die CSU-nahe Stiftung da sogar offener als der Spiegel, der dem Fraktionszwang mit einer atemberaubenden Volte den Zwangscharakter abspricht: „Ein Zwang läge vor, wenn die Fraktion ein bestimmtes Votum auferlegt und Sanktionen androht. Dies wäre mit Artikel 38 im Grundgesetz (Abgeordnete sind „nur ihrem Gewissen unterworfen“) jedoch nicht vereinbar. Es besteht allerdings die Möglichkeit, einen Abweichler bei der folgenden Wahl nicht wieder als Kandidaten aufzustellen – und ihm das auch zu signalisieren. Das wäre nicht verfassungswidrig.“
Wenn die Bundeskanzlerin per Interview die Homo-Ehe zur „Gewissenfrage“ erklärt, dann ist das eigentlich ein Code, um ihren Partei-Schäfchen mitzuteilen, dass sie ausnahmsweise sich einmal das Recht nehmen dürfen, das das Grundgesetz ihnen eigentlich ohnehin gibt. Mit anderen Worten: Ob der Satz im Grundgesetz wirklich gilt oder nicht, entscheiden die Chefs der Fraktionen.
Das Ergebnis dieses „Mechanismus“, der sich, wie es im Spiegel heißt, „im Laufe der parlamentarischen Arbeit … durchgesetzt hat“, ist ein Parlament der Feigheit. Ein Parlament, dessen Abgeordnete in einer der wichtigsten Krisenlagen der jüngeren Geschichte, im Spätsommer und Herbst 2015 nicht einmal von der Regierung verlangen, dass deren grundlegende Entscheidungen, die geltendes Zuwanderungsrecht de facto außer Kraft setzen und damit die Zukunft des Landes prägen werden, von ihnen als Repräsentanten des Souveräns Bürger legitimiert werden. Es gab bekanntlich keine Plenardebatte und keine Abstimmung dazu – weil die Bundesregierung es nicht wollte und die Abgeordneten der Koalition und Opposition dies mit sich machen ließen.
Warum nicht öfter, warum nicht immer zwanglose Debatten?
Es sind bestimmte Themen, für die die Spitzen der Fraktionen ihr Zwangsregime aufzuheben pflegen: Schwangerschaftsabbruch, Verlängerung der Verjährungsfrist von NS-Verbrechen, Präimplantationsdiagnostik, „Ehe für alle“. Ein besonders spektakulärer Fall war die Entscheidung über den Regierungsumzug nach Berlin. Gemeinsam ist allen Themen ohne Fraktionszwang, dass es bei ihnen meist nicht um viel Geld und nicht um die Machtverteilung ging, sondern um Ethik oder Symbole. Um mit den Worten eines früheren Kanzlers zu sprechen: Es sind Fragen, die abgebrühte Machtmenschen für „Gedöns“ erachten.
Nach solchen Parlamentsdebatten und im doppelten Wortsinne offenen Abstimmungen über „Gewissensfragen“ sind Parlamentarier und die politische Publizistik dann meist begeistert. Dann ist von einer „Sternstunde des Parlamentarismus“ oder ähnlichem Pathos die Rede.
Doch warum eigentlich sollen diese parlamentarischen Sternstunden nur gewissen Themen vorbehalten sein? Ist nicht jede parlamentarische Entscheidung von einer Bedeutung, die es rechtfertigt, dass die gewählten Vertreter derjenigen, die sich schließlich an Gesetze zu halten haben, ihre Entscheidung mit ihrem Gewissen vereinbaren können sollten? Oder ist es etwa akzeptabel, dass die Repräsentanten der Deutschen über den Bundeshaushalt, über Asylgesetze, über CO2-Steuern oder über den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland gewissenlos entscheiden sollen? Offenbar.
Erst kamen die Abgeordneten, dann die Parteien
Eine parlamentarische Demokratie ohne Parteien ist heute kaum noch vorstellbar. Die allermeisten Abgeordneten sitzen in den Parlamenten, weil sie sich innerhalb ihrer Parteien durchgesetzt haben. Auch von denen, die einen Direktwahlkreis gewonnen haben, sind die meisten nur deshalb dort Kandidaten geworden, weil sie sich zuvor in den parteiinternen Gremien durchgesetzt haben.
In Vergessenheit ist geraten, dass es in der Geschichte der parlamentarischen Demokratie ursprünglich umgekehrt war. Am Anfang stand – in England sowieso, aber auch in Frankreich und später in Deutschland – der im Wahlkreis gewählte Abgeordnete. Erst im Parlament schloss er sich mit anderen Repräsentanten zu „Clubs“ zusammen, aus denen dann im Laufe der Jahrzehnte die immer dichteren Parteienstrukturen erwuchsen.
Das, was Merkel und die führenden Parteipolitiker der Gegenwart als besondere Delikatesse des Parlamentarismus zur Ausnahme erklären, haben nicht nur das Grundgesetz und die Demokratietheorie als Normalität vorgesehen. Die jüngsten Debatten und Abstimmungen im britischen Unterhaus seit dem Brexit-Votum zeigen, dass es durchaus auch eine moderne Realität sein kann: Abgeordnete, deren Überzeugungen und Ansichten nicht jederzeit von der Parteiraison und dem Wunsch nach Sicherung des eigenen Mandats überlagert sind.
In Großbritannien, aber auch in Frankreich steht immer noch dank des konsequenten Mehrheitswahlrechts der einzelne Abgeordnete mit deutlich größerem Selbstbewusstsein seiner Fraktions- und Parteiführung gegenüber. Im Mutterland der Demokratie ist man sich noch klar darüber, dass erst der gewählte Abgeordnete kam und dann erst die Partei.
Der Parteienstaat, wie er sich vor allem in Deutschland entwickelt hat, ist nicht die Grundlage der repräsentativen Demokratie und Voraussetzung ihres Funktionierens. Er ist ihre Degeneration.
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