So schnell und grundlegend sich derzeit auch vieles verändert, im politischen Betrieb bleibt doch manches erstaunlich fest erhalten. Olaf Scholz belegte das in der jüngsten Haushaltsdebatte im Bundestag mit seinem zentralen Satz: „Wir werden aus der Krise herauswachsen.“
Der Glaube, dass Wirtschaftswachstum durch die Politik unbegrenzt geschaffen werden kann und muss, weil nämlich dieses Wachstum das Allheilmittel für alle Probleme (inklusive die durch die Wachstumspolitik hervorgerufene Staatsverschuldung) sei, ist ein zentrales Dogma der Politik spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Matthias Schmelzer „The Hegemony of Growth, 2016). Durch das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ von 1967 sind die Regierenden sogar dazu verpflichtet.
Bemerkenswert war, dass Scholz seine Rede mit folgender These begann: „Die Welt, in der wir leben, besteht nicht nur aus Erzählungen. Sie besteht nicht nur darin, dass irgendjemand eine Geschichte erzählt und sagt: Das könnte eine Möglichkeit sein. Sie besteht auch darin, dass wir jeden Tag überprüfen können, ob das eigentlich stimmt, was uns erzählt wird.“ Er bezog sich auf die AfD, deren Behauptungen „jeden Tag in den Krankenhäusern widerlegt“ würden.
Aber dann setzte er selbst zu einer solchen Erzählung an: „Wir können und müssen auf alle Fälle darauf setzen, dass unsere Wirtschaft in Deutschland wächst. Das ist das, was uns schon mal gelungen ist, nach der letzten Krise haben wir es nämlich tatsächlich geschafft, dass die vielen zusätzlichen Schulden sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung relativiert haben, weil wir es hinbekommen haben, dass Deutschlands Wirtschaft gewachsen ist. Und wir hatten deshalb nur 60 Prozent Staatsverschuldung am Ende des letzten Jahres. Aber damals nach der Krise waren das über 80 Prozent Staatsverschuldung. Jetzt werden es knapp über 70 Prozent sein. Und deshalb ist es sehr plausibel, dass wir das schaffen können. Insbesondere, wenn wir zweitens auf die richtigen Zukunftsfragen setzen…“
Nicht einmal – so müsste man Scholz entgegenhalten – in den Jahren der Hochkonjunktur zwischen Finanz- und Coronakrisen hat es Deutschland also geschafft, die Staatsverschuldung wirklich radikal zu verringern. In anderen Ländern gelang das bekanntlich noch viel weniger. Was ebenso bekanntlich ein Grund dafür ist, dass die tatsächliche Verschuldung Deutschlands durch seine Mitgliedschaft und de facto Mithaftung in der Währungsunion sehr viel höher ist als die offizielle.
Nie und nirgendwo ist dieses Aus-den-Schulden-heraus-Wachsen in dem halben Jahrhundert geglückt, das auf die „trente glorieuses“, die drei Jahrzehnte weitgehend staatschuldenfreien „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg folgte. Seit den frühen 1970er Jahren haben immer neue schuldenfinanzierte Maßnahmen der Konjunkturpolitik (und der damit verflochtenen Sozialpolitik) und schließlich auch der Geldpolitik zwar immer wieder ein Wachstum angestoßen, aber es war stets zu schwach, um die aufgelaufenen Schulden zu tilgen. Der jüngste Vorschlag von George Soros, „ewige Anleihen“ einzuführen, ist da eigentlich nur konsequent.
Das Wachstumsdogma ist also eine dieser Erzählungen (vgl. Deirdre McCloskey „The Rhetoric of Economics“, 1985), deren Wahrheitsgehalt trotz naheliegender Gegenindikatoren, allzu selten in Frage gestellt wird. Stattdessen wird sie einfach immer wiederholt – auch vom Bundesfinanzminister im Bundestag.