Tichys Einblick
Russland als "spiritueller Raum"

Putin bekundet offenen Revisionismus: Zurück zum alten Zarenreich

In seiner Rede zur Anerkennung der Separatistengebiete im Donbas bestreitet Russlands Präsident Putin nicht nur die staatliche Legitimation der Ukraine, sondern letztlich auch der anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Putins Ziel ist offensichtlich die Wiederherstellung des alten Russland vor 1917.

Wladimir Putin bei der Rede im Kreml zur Anerkennung der Separatistenrepubliken in der Ukraine, 21.02.2022.

IMAGO / SNA

Die Rede, die der russische Machthaber Wladimir Putin hielt, um schließlich an deren Ende die Anerkennung der Separatistenrepubliken in der Ukraine zu verkünden, war in weiten Teilen eine historische Predigt. Er argumentiert und rechtfertigt sich mit historischen Ansprüchen, statt wie westliche Politiker üblicherweise mit universellen Werten, deren Realisierung für die Zukunft versprochen wird. Nach dieser Rede kann es nicht den geringsten Zweifel geben, dass die Annexion der beiden Gebiete im sogenannten Donbas in Kürze erfolgen wird. Und dass Russlands Ansprüche weit darüber hinausreichen.

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Putin hatte einst gesagt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ ist. Aber in seiner jetzigen Rede ging er weiter und machte deutlich, dass nicht die Sowjetunion Bezugspunkt seines expansiven Handelns ist, sondern das vor-sowjetische Zarenreich. Die eigentliche Botschaft dieser Rede ist damit eine Verschärfung der Ansprüche Moskaus gegenüber der Ukraine und auch den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Denn das Zarenreich war ein zentralistisch regiertes Imperium, während die Sowjetunion offiziell ein Bundesstaat war, der den Nationalitäten  zumindest formal eine gewisse Staatlichkeit gewährte, also die Existenz der Ukraine und der anderen nichtrussischen Völker äußerlich anerkannte. 

Der scheinbare Widerspruch in Putins Rede – er wirft den Ukrainern Nationalismus vor, während er selbst von Russlands alten Ansprüchen spricht – ist aus seiner Perspektive keiner: Denn Putin spricht der Ukraine letztlich ab, überhaupt eine von Russland verschiedene eigene Nation zu sein. Sie sei „ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums“. Damit macht er letztlich deutlich, dass Russland für ihn nicht eine Nation wie andere ist, sondern eine Art Übernation, eine umgreifende Kultur, ein „spiritueller Raum“ eben. Und die Ukrainer sind entsprechend für den russischen Präsidenten „unsere Freunde, unsere Verwandten, nicht nur Kollegen, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen, sondern auch unsere Verwandten und engen Familienmitglieder“.

Um dies zu begründen, blickt er weit zurück in die Geschichte: Die Expansion der Moskowiter Zaren nach Südwesten in der frühen Neuzeit umschreibt er mit den Worten, „als ein Teil dieser Gebiete mit dem russischen Staat wiedervereinigt wurde“ – bezieht sich also offenbar auf die Kiewer „Rus“ des frühen Mittelalters, die in einem losen Verbund von Fürstentümern auch den Großteil des heutigen europäischen Russland umfasste.

Ukraine
Was tut Putin nach der Anerkennung von Donezk und Luhansk?
Die Nichtexistenz der Ukraine als politische Einheit unter der Zarenherrschaft (die westlichen Teile der heutigen Ukraine gehörten allerdings nie zum Zarenreich, sondern zum Königreich Polen-Litauen, beziehungsweise später zu Österreich) sieht Putin offenbar als Normal- und Idealfall der Geschichte an – wie es auch die Panslawisten im 19. Jahrhundert taten, die die Ukrainer als „Kleinrussen“ und Teil eines „dreieinigen russischen Volkes“ betrachteten. Es gab, muss man wissen, im Zarenreich keine Verwaltungseinheit Ukraine – was natürlich nicht bedeutet, dass es keine von den Russen unterscheidbare Ukrainer gab. 

Die „moderne Ukraine“ sei „vollständig von Russland geschaffen“, sagt Putin, „genauer gesagt, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland“.  Die „bolschewistische Politik“ habe „zur Entstehung der Sowjetukraine, die auch heute noch zu Recht als ‚Wladimir-Lenin-Ukraine‘ bezeichnet werden kann“, geführt. Lenin „war ihr Autor und Architekt“, sagt Putin. Die Ukraine habe, so Putin, „nie eine stabile Tradition echter Staatlichkeit“ gehabt. Dieses angebliche Fehlen „echter Staatlichkeit“ wiederholt Putin noch mehrfach in der Rede. Er spricht von „großzügigen Geschenken“ der Bolschewiki an die Nationalisten, das sei „nicht nur ein Fehler“ von Lenin gewesen, sondern „weitaus schlimmer als ein Fehler“. Und der Donbas, also das Gebiet jener zwei von russischsprachigen Separatisten beherrschten „Republiken“ Luhansk und Donetsk, die Putin einige Minuten später offiziell anerkennt, sei von Lenin „buchstäblich in die Ukraine hineingepresst“ worden. 

Auf Biden & Co. ist kein Verlass
Gestern Kabul, heute Donezk: Der Westen kapituliert nur noch
Diese Darstellung der Existenz der heutigen Ukraine als Fehler Lenins gipfelt dann in Putins eigentlichem Kniff, der an Zynismus wohl kaum zu überbieten ist. Er stellt die Überwindung des Kommunismus in der Ukraine als unvollständig dar, solange sie selbst als Staat existiert: „Sie wollen entkommunisieren? Nun, für uns ist das vollkommen in Ordnung. Aber Sie sollten nicht, wie man so schön sagt, auf halbem Weg stehen bleiben. Wir sind bereit, Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet.“ Konkreter wird er nicht, aber der drohende Charakter der Worte ist unzweifelhaft.

Den Willen zur staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine beim Zusammenbruch der Sowjetunion spricht Putin der Bevölkerung ab: Der Kern der nationalen Frage seien damals „wie immer, nicht die Erwartungen und unerfüllten Sehnsüchte der Völker der Union“ gewesen, sondern „der wachsende Appetit der lokalen Eliten“. Über der politischen Führung der Ukraine schüttet Putin, ohne individuelle Namen zu nennen, Kübel von Unrat aus: Der Staat ohne Staatlichkeit werde von Korruption beherrscht und stehe völlig unter der Fuchtel westlicher Interessen, die ihn zu einer „Kolonie mit einem Marionettenregime“ gemacht hätten. 

Die Sowjetunion und Russland sind für Putin, wie er hier unmissverständlich deutlich macht, eigentlich identisch. Der Zerfall der Sowjetunion in Einzelstaaten ist für ihn der „Zusammenbruch des historischen Russlands, das den Namen UdSSR trug“. Was er zuvor als konsequente „Entkommunisierung“ bezeichnete, ist für Putin also die Wiederherstellung des vorsowjetischen Russischen Reiches.

Mit dieser Rede hat Putin letztlich die staatliche Souveränität nicht nur der Ukraine, sondern aller Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Frage gestellt. Diese Rede ist Ausdruck des offenen Revisionismus. Sein Programm, sein großes Ziel, ist nicht weniger als die Wiederherstellung eines russischen Imperiums, das den gesamten „spirituellen Raum“ des alten Zarenreiches umfasst. Zu dem gehörten bekanntlich neben der Ukraine und Weißrussland auch die zentralasiatischen Staaten, die drei Kaukasus-Staaten und auch die heutigen EU- und Nato-Länder des Baltikum, ja sogar bei seiner größten Ausdehnung auch Polen und Finnland. In all diesen Staaten kann man sich nach dieser Rede keiner Illusion mehr hingeben über die langfristigen Ziele Putins. 

Anzeige
Die mobile Version verlassen