Laut gängiger und dominanter kulturwissenschaftlicher Theorie ist „Othering“, also die Konstruktion des „Anderen“, so etwas wie der Ursprung alles Bösen, was es angeblich durch antidiskriminierende Maßnahmen zu überwinden gilt. So hätten die Europäer im 19. Jahrhundert etwa durch ein Zerrbild des Orientalen sich selbst hervorgehoben und die Bewohner des Orients herabgewürdigt, wie Edward Said in seinem berühmten Buch „Orientalism“ behauptet. Dieses Muster, so die Theorie, ist auf zahlreiche andere Felder zu übertragen. Die betonte Unterscheidung und Distanzierung von „den Anderen“ könne man in Geschichte und Gegenwart beobachten mit Bezug auf das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, die Religionszugehörigkeit, die ethnische Zugehörigkeit, die Nationalität, die soziale Stellung innerhalb einer Gesellschaft und (vermeintliche) biologische Unterscheidungskriterien zwischen Menschen. Ein typisches, viel gelobtes Buch aus dieser Schule war zum Beispiel „Europa erfindet die Zigeuner“ von Klaus-Michael Bogdal. Eng verwandt mit der Othering-Theorie ist auch das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ und der „sozialen Desintegration“, mit dem Wilhelm Heitmeyer große nicht nur akademische, sondern auch politische Durchschlagskraft erreicht hat.
Umso interessanter ist das laute Schweigen der Othering-Experten in den Universitäten und anderen Hochburgen des Geistes angesichts des ganz gegenwärtigen Beispiels von Othering, das nun live in den Medien und im Alltag mitzuerleben ist, zum Beispiel in der letzten Talkshow „Hart aber Fair“. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat es geradezu mustergültig ausformuliert: „Die Einen haben sich sehr vernünftig verhalten und müssen sich keine Vorwürfe machen, und die Anderen tun so, als wenn diese Pandemie nichts mit ihnen zu tun hätte!“ Da müsste heute eigentlich ein Aufschrei durch die Gänge der kulturwissenschaftlichen Seminare schallen: Ausgerechnet ein Sozialdemokrat redet der Ausgrenzung von „Anderen“ das Wort. Nichts dergleichen geschieht. Stattdessen empört sich die Twitter-Gemeinde über die Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, Svenja Flaßpöhler, die als einzige nicht in den Empörungschor über die Ungeimpften einstimmte, also sich dem Othering-Ritual verweigerte. Als Argument genügt in der Corona-Twitter-Ära der „Schwurbel“-Vorwurf und ein wenig Beifall von denen, die schon erfolgreich als ganz und gar „Andere“ markiert sind (Querdenker zum Beispiel).
Ein paar kurze Jahrzehnte lang schien es so, als ob in aufgeklärten, freiheitlichen, rechtsstaatlich organisierten Gesellschaften die strenge Unterscheidung in „Wir“ und „die Anderen“ aufgeweicht sei oder sich sogar ganz überwinden ließe durch das, was Jürgen Habermas „herrschaftsfreien Diskurs“ nennt. Davon ist wenig übrig geblieben in Corona-Zeiten. Habermas selbst als Altvater des Juste Milieus hat klar gemacht, dass diejenigen, die der „Bekämpfung der Pandemie“ vermeintlich im Weg stehen, sich auf ihr Recht, am Diskurs teilzuhaben, nicht mehr berufen können. Und so ist aus seinem angeblich herrschaftsfreien Diskurs der billige Vorwurf des „Geschwurbels“ geworden, der jedes eigene konsistente Argument unnötig macht. Und im Zweifelsfall findet der Diskurs einfach nicht statt. Jemanden wie Flaßpöhler überhaupt einzuladen, so ein auf Twitter vielfach geäußerter Vorwurf, sei „false Balance“. Den Vorwurf kennt man aus der Klima-Debatte: Weil die Meinung des Anderen einfach zu randständig sei, verdiene sie kein öffentliches Forum. Das ist konsequentes „Othering“ – der Andere ist einfach zu anders, als dass ein Gespräch zumutbar wäre.
Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene Kräfte, die sich der Emanzipation und Integration der Ausgeschlossenen und Diskriminierten verschrieben haben, nun angesichts ihrer eigenen Vorherrschaft selbst praktizieren, was sie den zu überwindenden Herrschaftsformen anlasten.