Die Nato-Mitgliedschaft der Türkei erweist sich immer deutlicher als ein grundlegender Schaden des westlichen Militärbündnis. Es ist absurd: Ein islamistischer Autokrat, dessen Land aus historischen Gründen Mitglied des westlichen Verteidigungsbündnisses ist, während es zugleich unter seiner Ägide das Wertefundament des Westens fortschreitend ablegt, verhindert den Beitritt von zwei ganz unzweifelhaften westlichen Demokratien, nämlich Schwedens und Finnlands, zu diesem Bündnis.
Dass Erdogan als Muslim empört ist, wenn Islam-Gegner mit der Verbrennung des für Muslime heiligen Buches eine Blasphemie begehen, ist verständlich und völlig legitim. Indem er aber diese Tat von einzelnen Bürgern zu einem internationalen Politikum erklärt, missbraucht er seinerseits die Religion zu politischen Zwecken. Das ist nicht nur abgeschmackt, sondern verwerflich.
Längst müsste den Regierungen der anderen Nato-Staaten klar sein, was für ein Regime sie mit Erdogans Türkei in ihren eigenen Reihen haben. Die Antwort der anderen Nato-Staaten auf Erdogans bündnisschädigendes Verhalten müsste längst über zahme Zurechtweisungen wie die des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg hinausgehen, der schulmeisterlich erklärt, dass „unangemessene Taten nicht automatisch illegal“ sind. Erdogan will ja gerade, dass solche Taten kriminalisiert werden. Er zeigt damit, dass er einem Land wie Pakistan, das sein Blasphemie-Gesetz gerade streng verschärft hat, näher steht als dem freien Westen.
Während Finnland und Schweden Schutz vor russischer Bedrohung suchen und die Geschlossenheit des Westens gegen Putins expansives Regime demonstrieren, praktiziert Erdogans Türkei eine Außenpolitik, die der russischen nicht ganz unähnlich ist. Im Nahen Osten, aber auch im Schwarzen Meer und im Kaukasus betreibt Erdogan eine expansive, neo-imperiale Politik, bei der Russland mal Konkurrent, mal Kumpan ist. Die Nato-Mitgliedschaft ist für sein Regime jedenfalls längst nur noch ein Mittel für eigene Zwecke, die mit denen des Bündnisses so gut wie nichts mehr gemein haben.
Während des Kalten Krieges war die Türkei für die Nato von existentieller Bedeutung zur Absicherung der Südflanke gegen die sowjetische Bedrohung. Die heutige Türkei unter Erdogan ist längst selbst zu einer Bedrohung der Nato von innen geworden, wie Erdogan jetzt erneut bewiesen hat. Solange er und sein Regime das Land regieren, wird sich daran nichts ändern.
Der Nato-Vertrag von 1949 kennt kein Verfahren zur Prüfung des Wohlverhaltens und keinen Zwangsausschluss. An dieser juristischen Hürde sind bislang alle Forderungen nach dem Rauswurf der Türkei (unter anderem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatte das 2019 einmal ins Spiel gebracht) von vornherein gescheitert. Mitglieder können lediglich von sich aus den Austritt erklären. Will sich die Nato deswegen auf unabsehbare Zeit den Machtgelüsten eines autoritären Regimes ausliefern?
Wenn alle anderen Mitglieder sich einig wären, dass die Erdogan-Türkei unter ihnen nichts verloren hat, dürfte ein Vertragstext aus einer anderen Epoche (1949) allerdings nicht das letzte Wort in einer Frage von existentieller Bedeutung für Gegenwart und Zukunft des Westens sein. Je früher dies geschieht, desto besser.