Die Zahlen aus einem jetzt bekannt gewordenen, eigentlich vertraulichen EU-Bericht sind geeignet, in Berlin Alarmstimmung auszulösen: Von Januar bis Mitte Dezember erreichten 70.002 Migranten von der Türkei aus die EU, das entspricht einem Anstieg von 46 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum (47847), wie aus dem Bericht hervorgeht, der der Zeitung Die Welt vorliegt. Die überwiegende Zahl der Asylbewerber in Griechenland stammt demnach nicht mehr aus Syrien. Die zahlreichste Gruppe sind Afghanen. Ihr Anteil liegt bei 30 Prozent, Syrer machen nur noch 14 Prozent aus, vor Pakistanern (9,5 Prozent), Irakern (8,0 Prozent) und Türken (5,0 Prozent).
Aus diesen Zahlen ist mindestens zweierlei zu folgern: Erstens hat ganz offensichtlich die Entschlossenheit der türkischen Seite, Migranten an der Ausreise in die EU zu hindern, deutlich nachgelassen. „Es wurde berichtet, dass bei bestimmten Gelegenheiten die türkischen Patrouillenboote, nachdem sie zuvor von der griechischen Küstenwache benachrichtigt worden waren, nicht eingeschritten sind und somit die Flüchtlingsboote einfach ziehen und sie die Grenze nach Griechenland überqueren ließen“, zitiert die Welt aus dem Bericht.
Das ist keine große Überraschung. Hat doch Recep Tayyip Erdogan immer wieder genau damit gedroht, um die EU und seine Nato-Partner von Maßnahmen gegen seine repressive Entdemokratisierungspolitik im Innern und seine aggressive militärische Expansion in Syrien abzuhalten. Der Bericht der EU ist nicht ohne Grund geheim. Denn er belegt, was die Kritiker des Deals von Anfang an sagten, die Regierenden vor allem in Berlin aber aus verständlichen Gründen nicht offen diskutieren wollen: Die EU und Deutschland als Hauptzielland der Armutseinwanderung im Besonderen haben sich Erdogans Türkei ausgeliefert. Jetzt zeigt er, wer am längeren Hebel sitzt.
Zweitens zeigen die Angaben der Migranten über ihre Herkunft (ob sie stimmen, ist oft nicht einfach nachzuweisen), dass der Andrang auf der Balkan-Route längst nicht mehr eine Folge-Erscheinung des Syrien-Krieges ist. Die Erfahrung seit 2015, also die allenfalls von der Türkei und anderen Transitländern gebremste, Möglichkeit nach Europa (vor allem Deutschland) zuwandern, hat sich in allen potentiellen Auswandererländern Asiens und Afrikas etabliert. Niemand kann den Migrationsdruck auf der Balkanroute mehr durch die besondere Lage in Syrien erklären. Es liegt an Europas und vor allem Deutschlands Anziehungskraft. Die ist ungebrochen. Sie wird vermutlich weiter wachsen, wenn nun die Türkei die Bremse noch weiter löst.
Dass Merkels Flüchtlings-Deal mit Erdogan nicht dauerhaft funktioniert, war eigentlich schon längst klar. Und das lag nicht nur an der Türkei. Denn die im Deal vorgesehene Möglichkeit, illegal aus der Türkei in die EU (de facto also Griechenland) eingereiste Migranten wieder dorthin zurück zu schicken, wurde in viel zu geringem Maße genutzt. Und zwar von Anfang an. Denn – das ist der eigentliche Haken am Deal – die Migranten behielten das Recht, auf europäischem Boden einen Asyl-Antrag zu stellen. Das taten und tun weiterhin, wie zu erwarten war, auch so gut wie alle Migranten. Die Bewältigung der Antragsflut überfordert die griechischen Behörden. Kein Wunder bei der schieren Zahl.
Abschiebungen in großem Umfang sind nicht nur für Deutschlands Regierende sondern auch für die in Griechenland in jeglicher Hinsicht unattraktiv. Die Griechen aber auch Balkan-Länder wie Bosnien (hier Bilder aus dem inzwischen aufgelösten Lager bei Bihac) setzen lieber darauf, das eigene Land für Asyl beantragende Armutszuwanderer unattraktiv zu halten, so dass die übergroße Mehrheit nach Westeuropa, am liebsten Deutschland, weiter will. Die Situation der überfüllten Aufnahmelager auf Lesbos und den anderen Inseln erfüllt den Zweck.
Die Bundeskanzlerin, die den gescheiterten Deal mit Erdogan mehr oder weniger im Alleingang ausgehandelt hat, scheint bislang nichts zu tun, um dieses Scheitern zu beheben. Das Scheitern wird noch nicht einmal offen eingestanden. Auch von diskreten Maßnahmen, das eigene Land und Armutszuwandererversorgungssystem endlich unattraktiver zu machen, geschweige denn die vor Jahren von Merkel versprochene „nationale Kraftanstrengung“ zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, sind nicht in Sicht.
Berlin agiert im Angesicht der sich anbahnenden Wiederholung der Lage von 2015 wie ein Kleinkind: Die Regierenden halten sich die Augen zu und glauben offenbar, dass das Problem dadurch keins mehr ist. Sowohl die Zuwanderungswilligen als auch der türkische Präsident werden daraus ihre Schlüsse ziehen.