Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentinursula von der Leyen haben mit ihrem Auftritt im Sultanspalast von Ankara nicht nur für Spott in den sozialen Netzwerken gesorgt. Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und den Rest der an Realpolitik orientierten Menschen außerhalb europäischer Politikblasen dürfte die Erkenntnis aus diesem Besuch vor allem die letzte Gewissheit sein, dass die Dauer-Bekenntnisse von EU-Politikern zu Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten eine bedeutungslose Show fürs heimische Publikum sind.
Das eigentliche Ergebnis des Besuchs war ein Freibrief für Erdoğan. Denn Michel und von der Leyen haben zwar vor den Mikrofonen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten geredet. Doch dafür, dass deren Kräfte in der Türkei stärker werden, haben sie nichts getan. Wenn es ihnen nämlich ernst damit wäre, hätten sie das Treffen mit Erdogan unter Protest absagen müssen. Schließlich hat jener nur einen Tag zuvor die Staatsanwaltschaft auf ehemalige Admirale der türkischen Marine gehetzt. Ihr Vergehen: Sie hatten sich öffentlich besorgt gezeigt, dass die türkische Regierung einen völkerrechtlichen Vertrag verletze, nämlich den von Montreux von 1936, der die Durchfahrtsrechte für Handelsschiffe durch die Meerengen in Schwarze Meer regelt. Erdogan will eine alternative Wasserstraße zum Bosporus bauen lassen, den „Kanal Istanbul“.
Der Besuch selbst war also eine Art Kotau, den Erdoğan wohl durch die Blamage von der Leyens am Katzentisch seines Palasts besonders genießen konnte.
Erdoğans türkische Armee konnte in Nordsyrien einmarschieren, Kurden vertreiben und IS-Kämpfer alimentieren, ohne dass dies irgendwelche unangenehmen Konsequenzen für ihn gehabt hätte. Auch seine mehr oder wenig direkt unterstellten Kämpfer in Libyen und Aserbaidschan kümmerten in Brüssel niemanden.
Nun könnte man als Realpolitiker frei nach Goethe sagen: Was kümmert es uns, „wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“. Aber die Europäer kümmert es auch nicht, wenn Erdoğans Anhänger direkt in Deutschland und anderen EU-Staaten ihren Einfluss geltend machen, ja sogar in der Kanzlerinnen-Partei CDU selbst.
Da kann man nichts machen? Natürlich könnte man. Es wäre so einfach, den Sultan in die Schranken zu weisen – wenn man nur ein Mindestmaß an Entschlossenheit zeigte. Erdoğan braucht Geld, viel Geld. Sein Regime ist abhängig davon, dass die Wirtschaft funktioniert, oder genauer gesagt: dass die Bevölkerung zumindest nicht weniger wohlhabend wird. Und das kann er – auch wegen seines eigenen ökonomischen Dilettantismus – nur mithilfe dauernder Hilfszahlungen aus dem Westen und ökonomischer Anbindung an die EU. Ohne diese würde die Türkei womöglich auf das Wohlstandsniveau der südöstlichen Nachbarn herabsinken. Ohne die Mitgliedschaft in der Nato wäre es übrigens auch mit der Schlagkraft seiner Streitkräfte nicht weit her.
Also kann Erdoğan weiter ungeniert auf den angeblich höchsten Werten der EU – Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten, auch auf Frauenrechten – herumtrampeln, wie es ihm gefällt – und trotzdem deren Geld einkassieren.