Zwei Meldungen beleuchten den aktuellen Zustand der CDU. Die Partei, so zeigen beide Nachrichten steckt spätestens seit der Ära Merkel in einer Art moralischer Geiselhaft, in der ihre politische Bewegungsfreiheit weitgehend eingeschränkt ist – aus Angst vor den Urteilen der rivalisierenden Parteien und vor allem der Meinungsmacher.
Zunächst das Ultimatum des Bundespräsidiums vom Montag, mit dem es Hans-Georg Maaßen zum Parteiaustritt auffordert. Wenn er das nicht bis zum kommenden Sonntagmittag tue, werde ein Ausschlussverfahren eingeleitet.
Eine andere Meldung illustriert die mit dieser moralischen Geiselhaft verbundene argumentative Schwäche und Handlungsunfähigkeit der CDU an einem konkreten, entscheidenden Politikfeld. Es geht um ein Interview eines nicht sehr prominenten, aber nicht ganz unbedeutenden CDU-Politikers: Reinhard Sager, Präsident des Landkreistages. Wenn er nun im Interview mit der FAZ über „kaum noch freie Kapazitäten“ für die Unterbringung von Asylzuwanderern klagt und von der Bundesregierung verlangt, „mehr“ zu tun, um „eine gleichmäßigere Verteilung und auch eine Begrenzung zu gewährleisten“, dann spricht er damit indirekt natürlich auch das emigrationspolitische Erbe von 2015 an. Hier wird die fatale zuwanderungspolitische Lage Deutschlands einerseits und der CDU in der deutschen Parteipolitik andererseits deutlich.
Die damalige Bundesregierung unter seiner Parteifreundin Angela Merkel hatte schließlich entschieden, den anschwellenden Zuzug von Armutsmigranten einfach laufen zu lassen und nur als Aufgabe für Unterbringungs- und Versorgungsmanagement zu behandeln – flankiert von Forderungen nach einer gerechteren Verteilung in der EU. Dass letzteres illusorisch war, war offensichtlich: wie sollte man auch in andere Staaten verteilen, wenn man zugleich keinem Asylzuwanderer den Zugang zu der attraktiveren deutschen Versorgung konsequent verweigerte. Bis heute steckt man eben auch in der CDU diesbezüglich den Kopf in den Sand und will den Pull-Faktor der Asylmigration nicht wahrnehmen. Der wirkt auch relativ zwischen potentiellen Zielländern.
Ohne harte Zuzugsbeschränkungen ist eben de facto die Attraktivität der Versorgungsleistungen die einzig entscheidende Migrationsstellschraube. Und Deutschland hat sie nun mal in der EU besonders großzügig aufgedreht. Wer also eine gleichmäßigere Verteilung in der EU wünscht, müsste entweder strenge Beschränkungen mit einem harten Kontrollregime an den Außen- und Binnengrenzen einführen oder die Attraktivität Deutschlands für Armutszuwanderer so deutlich herabsetzen, dass diese lieber in andere europäische Länder gehen. Beides wären jedenfalls Maßnahmen, die Merkel und ihre Mitregierenden 2015 aus Angst vor hässlichen Bildern und der Kritik einer willkommensseligen veröffentlichten Meinung scheuten und die CDU-Politiker sich weiterhin nicht wirklich zu fordern trauen.
Von dieser inkonsistenten Politik will auch Sager offenbar nicht lassen. Wie auch andere Lokalpolitiker warnt er zwar mit eindringlichen Worten: „Die einseitige Belastung Deutschlands ist mit erheblichem gesellschaftlichem Sprengstoff verbunden. Es entsteht jedenfalls großer Schaden in Deutschland, wenn die Kommunen in eine Lage gebracht werden, in der sie nicht mehr handeln können. Dann verlieren die Bürger nicht nur Vertrauen in ihre Kommunen, sondern in den Staat als Ganzes. Die Bundesregierung muss alles tun, um das Problem kleiner statt größer zu machen.“
Aber was dieses „alles“ sein soll, sagt er eben nicht. Wie auch andere Unionspolitiker. Ein Aufnahmestopp? Nein. Deutschland müsse „seinen humanitären Verpflichtungen gerecht werden“, aber er sei „strikt dafür, die Zahl der aufzunehmenden Geflüchteten zu reduzieren.“ Er wiederholt nur die illusorischen Pseudo-Forderungen der europäischen Verteilung aus der Merkel-Zeit: „In der EU müsste geregelt werden, dass Menschen, die schon Zuflucht gefunden haben, nicht alle automatisch nach Deutschland weitergeleitet werden, weil hier die Sozialstandards am höchsten sind.“ Aber die Minderung der Standards fordert er eben nicht, das wäre schließlich unbequem.
Man will sich keine humanitäre Blöße geben. Aber die Zahl der Zuwanderer soll weniger werden, weil die Wähler allmählich kalte Füße kriegen. Man fordert etwas, das unter den scheinbar moralischen Prämissen, die der politische Gegner etabliert hat und denen man sich aus Feigheit vor der Auseinandersetzung unterworfen hat, nicht machbar ist.
Die Äußerungen von Sager, die anderen Äußerungen von Unionspolitikern aus jüngerer Zeit ähneln, belegen nur: Die CDU hat die Lehre aus der fatalen Merkel-Ära nicht gezogen. Auch unter dem parteiinternen Merkel-Feind Friedrich Merz wagt sie den Ausbruch aus der gesinnungspolitischen Gefangenschaft in die Freiheit der Realpolitik nicht. Geändert hat sich nur, dass die CDU bundespolitisch, also auch migrationspolitisch keine Verantwortung mehr trägt.
Statt in die Freiheit der Wirklichkeit springt das Präsidium der CDU nun über das Stöckchen, das ihr eine feindselige Medien-Öffentlichkeit hinhält: Hans-Georg Maaßen wird rausgeworfen. Da dieser gerade erst zum Vorsitzenden der Werteunion gewählt wurde, verstößt die CDU damit auch diese unmissverständlich: Wer Mitglied der CDU sei, könne nicht gleichzeitig Mitglied in der Werteunion sein, wird aus dem Beschluss zitiert. Spätestens seit der Wahl von Maaßen „muss sich jedes ihrer Mitglieder die Frage stellen, wo seine politische Heimat ist“, heißt es darin.
Was sollen diese Wähler jetzt tun? Es bleibt ihnen nur die Wahl zwischen politischer Resignation durch Wahlenthaltung (beziehungsweise Wahl einer konservativen Splitterpartei, was aufs gleich hinausläuft) oder die Protestwahl jener Partei, deren Wahlergebnisse Friedrich Merz eigentlich zu halbieren versprach. Die AfD steht in den Umfragen trotz ihrer inneren Radikalisierung und äußeren Isolierung deutlich stärker da als bei der Bundestagswahl.
Natürlich hat die Werteunion ausgerechnet mit ihren Aushängeschildern Max Otte und Hans-Georg Maaßen in der CDU unbeliebte Vorsitzende gewählt und ihren innerparteilichen Kritikern immer wieder Angriffsflächen geboten. Man muss nicht mit den Formulierungen von Maaßen einverstanden sein, um zu erkennen, dass dieser Schritt des CDU-Präsidiums ein schwerer Fehler ist. Die Union wird dadurch nicht nur Mitglieder und Wähler verlieren (ohne dafür neue zu gewinnen), sondern signalisiert unübersehbar ihre verhängnisvolle Schwäche im politischen Diskurs. Sie beweist, dass sie sich von außen vorschreiben lässt, wer nicht zu ihr gehören darf.
Merz und ein großer Teil des Unionsestablishments haben es offenbar immer noch nicht begriffen: Auch wenn die CDU von früheren Positionen abrückt: den Grünen wird sie nie grün genug sein. Leute wie WDR-Moderator Jean-Philippe Kindler („Ich will Radikalisierung gegen diese Sch…-Partei“) wollen die CDU zerstören – auch ohne Maaßen. Als Merz am Freitag in Neukölln auftrat, protestierten vor der Halle einige Dutzend Menschen gegen „rechte Hetze“. Deren Zuneigung wird Merz nie gewinnen, solange er nicht die Selbstauflösung der CDU bekannt gibt.
Merz ist keine Kämpfernatur. Die Hoffnung seiner früheren Anhänger, dass er den Kulturkampf aufnehmen würde, hat er bereits enttäuscht. Aber man hätte ihm wenigstens so viel Schlauheit zutrauen können, zu wissen, dass Leute wie Maaßen in der CDU auch eine gewisse Schutzfunktion für andere in der Partei erfüllen. Der Gesinnungsgötzen, dem Merz nun Maaßen und die Werteunion opfert, wird dadurch nicht langfristig besänftigt werden. Sein Appetit auf neue Opfer wird schon bald wieder wachsen. Er ist unersättlich. Das willkommenste Opfer wäre Merz selbst. Dessen Reden über „kleine Paschas“ hat schon wieder den Appetit angeregt.