Tichys Einblick
Söder in Merkels Spuren

Mehr Macht für den Bund und Europa: Der fatale Drang nach den großen Lösungen

Ein bayerischer Ministerpräsident, der mehr Macht für den Bund fordert! Das gab es noch nie. Söder hat eben von Merkel gelernt. Die weiß sich seit Jahren den Trend zu immer mehr Macht für die jeweils höhere Politikebene zunutze zu machen.

imago Images/Metodi Popow

Ausgerechnet Markus Söder hat mehr Macht für die Bundesregierung beim Infektionsschutz gefordert. Das ist nicht nur ein Bruch mit seiner eigenen Corona-Politik, für die er durchaus nicht immer in Berlin um Erlaubnis fragte, sondern ein grundlegender Traditionsbruch. Denn er ist schließlich bayerischer Ministerpräsident und Bayern war seit den Tagen des Märchenkönigs Ludwig II. stets die lauteste und mächtigste Stimme gegen die Berliner oder Bonner Zentralgewalt. Außerdem sollte man doch, wenn schon die Traditionen nicht mehr ziehen, annehmen, dass ein regierender Politiker nicht die Einschränkung seiner eigenen Machtfülle fordert. 

Aber Söder ist eben nur in zweiter Linie Ministerpräsident von Bayern. Nicht weil er Franke ist, sondern weil er vor allem ein Zeitgeistsurfer ist und sicher glaubt, dass er auf dieser Welle seinem eigentlichen Ziel besser entgegenreiten kann. Das Ziel ist natürlich die Kanzlerschaft. 

Die Forderung Söders ist wohl auch seine persönliche Lehre aus dem (laut Umfragen) erfolgreichen Gebaren der Bundeskanzlerin in der Corona-Krise, in der sie getragen von medialer Zustimmung durch Videokonferenzen mit den Ministerpräsidenten und vor allem anschließende Pressekonferenzen den öffentlichen Eindruck erweckte, dass eigentlich nicht die Länderregierungen, sondern sie als Bundeskanzlerin die Meisterin der Pandemie-Bekämpfung sei. 

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Im föderalen Verfassungsgefüge der Bundesrepublik sind dafür zwar fast ausschließlich die Länder zuständig. Aber Merkel hat es informell geschafft – zumindest dem verbreiteten Eindruck nach, und nur darauf kommt es ihr an – den Föderalismus auf diesem Feld einzuschränken. Wenn die Länderregierungschefs dann nicht mitspielten, markierte sie die beleidigte Majestät. Das musste ihr einstiger Liebling, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, schmerzlich erfahren. Zuletzt watschte sie nun Thüringens Ministerpräsidenten Bodo Ramelow ab, der es wagt, bei der Aufhebung der Corona-Maßnahmen voranzuschreiten. Ausgerechnet der undankbare Ramelow, mag sie sich gesagt haben, dem sie doch durch ihr „Unverzeihlich“-Machtwort aus Südafrika zur neuen Amtszeit verholfen hatte. Aber Ramelow hat eben im Gegensatz zu Söder keine erkennbaren bundespolitischen Machtambitionen, sondern ein Bundesland zu regieren, in dem es im Gegensatz zu Bayern insgesamt wenige und in manchen Landkreisen schon seit Tagen überhaupt keine Corona-Infektionen mehr gibt. 

Weder Merkel noch Söder, noch Ramelow oder die meisten anderen Spitzenpolitiker in Berlin und den Landeshauptstädten machen sich vermutlich allzu viele Gedanken um Prinzipien. Aber dennoch geht es bei dem was sie gerade tun, um ein sehr wichtiges, ja, zentrales Prinzip. Nämlich das der Subsidiarität. Die Welle, auf der Söder gerade zu reiten versucht, ist die nicht nur bei einem großen Teil der politischen Eliten, sondern auch bei vielen Bürgern populäre Tendenz zur Verlagerung immer weiterer politischer Kompetenzen auf die jeweils höhere Ebene. Oder andersherum: Die voranschreitende Aushöhlung des Prinzips der Subsidiarität. 

Es ist ein fundamentales Prinzip freiheitlicher Gesellschaften und Staaten, nicht nur aber erst recht von föderalen Staaten wie der Bundesrepublik. Es besagt, dass Institutionen nur dann regulierend eingreifen dürfen, wenn die Möglichkeiten des einzelnen Bürgers oder einer Gruppe oder einer niedrigen Hierarchie-Ebene der Staatlichkeit allein eine bestimmte Aufgabe nicht bewältigen können. Die Kompetenz zur Regelung soll also stets so niedrig wie möglich und nur so hoch wie nötig angesiedelt sein. 

Das Prinzip beruht auf historischer Erfahrung. Genauer: Auf der negativen Erfahrung des Freiheitsverlusts in zentralistisch regierten Imperien und auf der positiven Erfahrung gerade der europäischen Geschichte, dass die Freiheit und auch der Wohlstand und kulturelle Höchstleistungen in überschaubaren Gemeinwesen mit einem auf Zusammengehörigkeitsgefühl beruhenden Bürgersinn in aller Regel besser gediehen als in von Untertanen bevölkerten und von fernen Machthabern mittels Statthaltern beherrschten Imperien.

Das Bewusstsein für die Schutzfunktion des Subsidiaritätsprinzips und damit die Popularität des Föderalismus ist offenbar im Schwinden begriffen. Es hat sich in jüngerer Zeit allgemein die Überzeugung durchgesetzt, dass das was bislang allein Sache der Familie war, nämlich Kindererziehung, zumindest weitgehend der Staat besser machen könne, und dass das, was laut Grundgesetz Zuständigkeit der Bundesländer ist (zum Beispiel Bildung und, wohlgemerkt, Infektionsschutz) der Bund besser könne. Und natürlich soll, so die tonangebende Meinung, am besten sowieso fast alles „europäisch“ geregelt werden.  

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Die Argumente dafür werden in aller Regel einerseits als scheinbar unumstößliche Vorgaben praktischer Vernunft und ökonomischer Effizienz vorgebracht. Und diese sind durchaus populär: Der Bildungsföderalismus etwa hat deswegen so schlechte Karten bei vielen Bürgern, weil er vordergründig unpraktisch ist für Familien, die mit Schulkindern von einem ins andere Bundesland umziehen. Und generell ist es in den Augen polyglott lebender und arbeitender, oder sich zumindest so gebarender Menschen einfach lästig, wenn Lehrpläne, Ferientermine, Mülltrennungsregeln oder eben jetzt Pandemiebekämpfungsmaßnahmen in einem Bundesland sich von denen im nächsten unterscheiden. 

Mit diesem letztlich ökonomischen Effizienzargument unentwirrbar verwoben ist noch das moralische Globalisierungsargument. Er wird in Reden in Davos ebenso deutlich wie in den Parolen „Herkunftsland: Welt“ oder „Nationalität: Mensch“, die immer öfter auf Plakaten bei Demonstrationen, als Graffitti oder auch als Theaterprojekt oder ähnliches präsentiert werden. 

Wer übrigens glaubt, dies sei ein „linkes“ Projekt alleine deswegen, weil jene subsidiären Gruppen von der Familie über die Dorfgemeinschaft bis zum Nationalstaat, gegen die es sich richtet, irgendwie „rechts“ wären, der sollte – zumindest wenn er unter links auch „gegen diejenigen mit dem vielen Geld“ versteht – bedenken: Das Niederreißen der Grenzen und die Verschiebung immer weiterer Zuständigkeiten auf jeweils höhere und letztlich die universelle Welt-Ebene spielt vornehmlich jenen in die Karten, die die effizienteste grenzüberschreitende Interessenvertretung organisieren können, nämlich überregional, multinational oder gar global agierenden Wirtschaftsunternehmen. 

Jene Menschen, die man aus ihren subsidiären Bindungen zu befreien sucht, um sie zu Gleichen in immer größeren Gruppen, schließlich zu nur-noch-Menschen in der einen Menschheit werden zu lassen, sind eben für Kapitalmaximierer dann nur noch eine Masse, aus der sie sich die passenden Rekruten für ihr jeweiliges  „identitätsloses Effizienzheer“ (Markus Vahlefeld) suchen. Um schließlich nur in neuen, traditionsfreien, aber mitbestimmungsarmen Gruppen zu enden. Dass sich die No-Borders-No-Nations-Linken dadurch längst zu Erfüllungsgehilfen der grenzenlosen Kapitalinteressen gemacht haben, wird entweder ignoriert oder in deren eigener Rhetorik noch kaschiert.

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Das Subsidiaritätsprinzip beruht letztlich auf historischen Traditionen, auf dem Vorhandensein und der Gültigkeit kultureller Zugehörigkeiten (Familien, den noch in der Weimarer Reichsverfassung 1919 erwähnten „Stämmen“ und der Nation). Es steht dadurch in einem nie ganz aufhebbaren Zielkonflikt zu universellen Werten – und auch zu individuellen Freiheitswünschen. Denn vordergründig beschränken eben tatsächlich alle Grenzen, sowohl die zwischen Bundesländern und Nationalstaaten, als auch die im übertragenen Sinne durch familiäre Bande oder andere Traditionsbestände gezogenen, das Ausleben individueller privater oder beruflicher Freiheiten. 

Wofür der Blick vielen Menschen aber leider verloren gegangen ist, sind dagegen die Freiheit bewahrenden Effekte dieser Grenzen, die das Durchgreifen der höheren Ebenen abwehren. Freiheit ist schließlich immer auch die Freiheit, seine eigenen, familiären, regionalen, nationalen Eigenheiten ausleben zu können, ohne sich den gleichmachenden Vorgaben einer fremden Zentrale unterwerfen zu müssen. 

Anders gesagt: Das Prinzip der Subsidiarität und generell die Einteilung von Menschen in geographisch und historisch-kulturell begrenzte Gruppen ist beides, Behinderung individueller Möglichkeiten einerseits; aber eben andererseits auch Schutz vor dem Machtwillen der höheren Ebene, die die „kleinen Kreise“ der Menschen nicht kennt und sie einebnen will, um sie ihren künstlichen Projekten zu unterwerfen. In diesem Spannungsfeld von nur Menschsein und von der Zugehörigkeit zu nicht beliebigen Menschengruppen verschiedener Ebene bewegt sich jeder Mensch, sofern er frei sein will. 

Corona offenbart den Sinn des Subsidiaritätsprinzips

Die Corona-Krise mit ihren sehr großen regionalen und nationalen Unterschieden könnte eigentlich als ein überzeugender Beleg für den Sinn des Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips herhalten. Was in Bayern oder im Kreis Heinsberg sinnvoll oder gar notwendig ist, muss es eben in Thüringen oder auf der Insel Rügen nicht unbedingt sein. Und möglicherweise hat ja auch generell der einigermaßen erträgliche Verlauf der Pandemie im stark föderalen Deutschland verglichen mit etwa dem weniger föderalen Frankreich oder Großbritannien auch damit zu tun, dass hier nicht eine nationale Regierung im Alleingang entscheidet. 

Bezeichnenderweise spielt dieser Gedanke im aktuellen politisch-medialen Diskurs aber keine Rolle. Es hat sich eingebürgert, jede Krise von vornherein so zu „framen“, dass sie vermeintlich „an keiner Grenze halt“ mache und stets nach der ganz großen Lösung – mindestens bundesweit, besser „europäisch“ und am allerbesten global – verlange. So stark ist dieser Frame, dass er auch auf das Corona-Virus immer wieder angewandt wird, obwohl es zwar eine globale Pandemie auslöste, diese aber sehr wohl jenseits nationaler und regionaler Grenzen jeweils sehr unterschiedliche Intensitäten und Schäden verursacht. Diese Wirklichkeit, die für das Subsidiaritätsprinzip spricht, scheint – bislang zumindest noch – schwächer zu sein als der Grenzenüberwindungs-Frame, der auf seine Auflösung hinwirkt.

Merkel ist eine Meisterin dieses Frame. Und Söder will offenbar gerne von ihr lernen. Denn die Kanzlerin hat in all den Jahren an der Macht wie kaum ein anderer regierender Politiker den angenehmen Nebeneffekt dieses steten Anhebens jeder Problemlösung auf immer höhere Ebenen genossen: Je gigantischer die Rettungsprojekte, je astronomischer die Geldbeträge, je umfassender die Ziele, desto abstrakter werden scheinbare Lösungen für die Bürger. Und damit ist ein Zweck, vielleicht der wichtigste, für Merkel und andere vermeintliche Problemlöser und Retter erfüllt: Ihre Verantwortlichkeit verschwimmt vor den vom Gigantismus geblendeten Augen der Bürger.

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