Tichys Einblick
Die Post-Leistungsgesellschaft

Im Land der zwei Wirklichkeiten

In Deutschlands Politik und Öffentlichkeit dominiert eine Gegenwirklichkeit, die das bürgerliche Leistungsethos ablehnt und die Leistungsträger für ihre Ziele zahlen lassen will.

Annalena Baerbock und Luisa Neubauer in Scharm-el-Sheikh, 17.11.2022

IMAGO / photothek

Die Wirklichkeit gibt es eigentlich natürlich nur einmal. Aber im derzeitigen Deutschland scheint es mindestens zwei zu geben. Es geht hier nicht nur um soziale oder lebensweltliche Unterschiede. Die gab es immer und in vielen anderen Gesellschaften und früheren Epochen waren sie wohl noch größer als in der heutigen Bundesrepublik. Es geht um etwas anderes, nämlich um (mindestens) zwei völlig gegensätzliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit.

Da ist zum einen die hergebrachte Wirklichkeit derjenigen, die auch am heutigen Streiktag wie an allen Werktagen irgendwie an ihren Arbeitsplatz gelangen müssen. Die meist auch nicht einfach zu Hause oder im nächsten WLan-versorgten Café arbeiten können, weil sie nämlich nicht journalistische Kommentare, Konzepte oder ähnlich Abstraktes produzieren, sondern greifbare Waren und spürbare Dienstleistungen. Menschen also, die zum Beispiel Brot backen oder anderen Menschen die Haare schneiden.

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Es sind diejenigen, auf die Cora Stephan in einem schönen Buch ein Loblied gesungen hat: Nennen wir sie die „Normalen“. Diejenigen also, die den überkommenen proletarischen und klein- oder großbürgerlichen Normen entsprechend leben, das heißt nicht zuletzt vor allem: arbeiten. Die Art und Weise ihrer Arbeit ist ebenso vielfältig wie die Spanne ihrer materiellen Verdienste gewaltig ist. Diese Diskrepanz, die in früheren Zeiten oft ebenso groß war, ist nicht gemeint, wenn hier von zwei Wirklichkeiten die Rede ist.

Die Friseurin verdient nur einen Bruchteil dessen, was zum Beispiel der Textilunternehmer Wolfgang Grupp verdient. Und doch leben sie in derselben, normalen Wirklichkeit, in der Menschen etwas nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für andere Menschen Sinnvolles tun (müssen oder/und wollen) – und dafür von den anderen auf verschiedenen Wegen bezahlt werden (nicht unbedingt, aber meist an einem Markt). Diese Normalität hat viel zu tun mit dem Begriff Leistung.

Was Leistung wirklich ist, kann man am besten daran erkennen, was los ist, wenn sie nicht mehr erbracht wird. Wenn wie heute Straßenbahner streiken, merkt man, wie fundamental bedeutsam deren Leistung für eine Gesellschaft ist. (Allerdings berühren sich bei diesem Streik zwei Wirklichkeiten: Der Druck, den die nicht fahrenden Bahnen machen, kommt auch dem aufgeblähten öffentlichen Dienst insgesamt zugute. Und zu zahlen haben dafür diejenigen Arbeitnehmer in der freien Wirtschaft, etwa in Metall- und Chemieindustrie, die mit weit unter der Inflationsrate liegenden Abschlüssen vorlieb nehmen mussten, weil ihre Industrien im Gegensatz zum öffentlichen Dienst abwandern können.) Die Abnutzung und Inflationierung des Begriffs Leistung in der Vor-Agenda-2010-Zeit durch politische Büchsenspanner in Sabine-Christiansen-Talkshows („Leistung muss sich lohnen“) und die leider damit nachträglich in Verbindung gebrachten Finanz-Exzesse, die schließlich in der Krise von 2008/09 gipfelten, haben leider viel dazu beigetragen, dass diese Normalität schließlich mithilfe des Kampfbegriffs „neoliberal“ angreifbar wurde und in den meinungsmachenden Kreisen als diskreditiert gilt.

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In vielen Köpfen, vor allem solchen, die die politische Meinung multiplizieren, ist seither nur noch ein kurzer Weg von der Leistung zur Raffgier und einer angeblichen Unmoral, die für koloniale Ausbeutung und die „Klimakatastrophe“ verantwortlich ist. So wuchsen in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts immer mehr junge Menschen in eine Gegenwirklichkeit hinein, in der man sich von der bürgerlichen Pflicht, etwas leisten zu müssen, „befreit“ hat. In früheren Zeiten lebten nur kleine Randgruppen sympathischer Sonderlinge, „Bohemiens“, in dieser Gegenwirklichkeit. Und manche von ihnen leisteten schließlich eben doch Gewaltiges: in Kunst und Literatur etwa. Was auch damit zu tun hatte, dass sowohl der Sozialstaat als auch die eigenen Eltern weniger zahlungswillig oder -fähig waren.

Doch einige Umstände führten dazu, dass diese Gegenwirklichkeit immer größer wurde, erst recht im Medien- und Politikbetrieb. Die Angst vor dem durch Leistung/Raffgier verursachten Klimawandel gehört dazu, der Schock der Finanzkrise, und vor allem einfach die numerische Zunahme der von Eltern und Sozialstaat grundgesicherten Irgendwas-mit-Medien-Studenten – und nicht zuletzt auch die neulinken Post-68-Botschaften, die sie in diesen Massenstudiengängen der Halbbildung aufnahmen.

Ihre Wirklichkeit wird nicht von Notwendigkeiten, sondern allein von vermeintlich absoluten Zwecken bestimmt. Vor allem ist das: „Klimagerechtigkeit“, also nicht weniger als die Rettung der Welt durch Schaffung einer perfekten Gesellschaft. Ebenso selbstverständlich, wie es in dieser Gegenwirklichkeit ist, dass immer jemand da ist, der für das eigene Nicht-Leisten-Müssen aufkam und weiter aufkommt, ist es in dieser Gegenwirklichkeit auch, dass die Klimagerechtigkeit nicht am Geld scheitert. Das war schließlich immer da, so lange man sich erinnern kann.

"Die Arbeit tun die Anderen"
Habeck und die Scharlatane des großen Versprechens
Die Bewohner dieser neuen Gegenwirklichkeit, deren führende Köpfe wohl in den meisten Fällen selbst Nachkommen von bürgerlichen Leistungseliten sind (nehmen wir als Paradebeispiel die Reemtsma-Nachfahrin Luisa Neubauer, die Topmanager-Tochter Annalena Baerbock und den Apotheker-Sohn Robert Habeck), kennen die Wirklichkeit des Leisten-Müssens und -Könnens nicht. Sie wurde ihnen nicht zugemutet. Man kennt also weder den Druck noch die Befriedigung, die damit einhergeht, etwas zu tun, auf das Menschen angewiesen sind.

Die „Streiks“ der Fridays-For-Future-Bewegung und die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ sind vielleicht auch ein Reflex auf diesen Mangel – und nicht ganz frei von Ressentiments: Man möchte letztlich auch gerne so unverzichtbar sein wie Arbeiter für ihre Arbeitgeber. Aber natürlich gibt es eigentlich gar keinen Schülerstreik, sondern nur schwänzende Schüler. Und eine Straßenblockade ist das exakte Gegenteil einer Leistung. Also lautet das eigentliche Leitmotiv dieser neuen Klasse der Gegenwirklichkeit: „Die Arbeit tun die anderen – das sollen sie uns büßen.“

An einem Streiktag wie gestern kann man sich gut bewusst machen: Die wirklichen Leistungsträger einer Gesellschaft sind nur diejenigen, deren Arbeitsniederlegung für den Rest der Gesellschaft ernsthafte Einbußen bedeutet. Da gehören übrigens auch die Menschen dazu, die so unfassbare Dinge wie Kunst und Wissen produzieren. Nur streiken die eben selten, weil sie es selbst nicht ohne ihre Leistungen aushalten.

Anders ist das in jener Gegenwirklichkeit, die vom Politik- und Meinungsbetrieb und leider auch von Teilen des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs Besitz ergriffen hat. Ob sie nun im Dienste der Rettung der Welt und der ultimativen Gerechtigkeit Bilder verunstalten, Denunziationsportale betreiben oder in einem Koalitionsausschuss ergebnislose Verhandlungen führen: Sie könnten so viel streiken, wie sie wollen. Es würde nicht nur niemandem allzu großen Schaden zufügen, es würde sogar vielen anderen Menschen das Leben einfacher machen.


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