Die Mängel der Puma-Panzer und anderer Waffensysteme der Bundeswehr sind sicher nur die eine Seite der mangelnden Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Eine seltener medial oder in „Zeitenwende“-Reden des Kanzlers thematisierte Frage ist, ob die Soldaten der Bundeswehr selbst überhaupt verteidigungswillig sind. Immer wieder gibt es Umfragen in Europa, die zutage fördern, dass nur eine Minderheit, und in Deutschland eine besonders kleine, überhaupt bereit wäre, im Verteidigungsfall zu kämpfen. Im März 2022 waren laut INSA nur 36 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen dazu bereit (34/36 Prozent sagten explizit nein).
Aktuelle Zahlen aus dem „Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben“ legen nun nahe, dass es nicht nur in der gesamten Bevölkerung, sondern sogar im deutschen Militär selbst eine nicht ganz unbeträchtliche Zahl von Menschen gibt, die nicht kämpfen würden: Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat sich im vorigen Jahr unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine gegenüber dem Vorjahr fast verfünffacht. Das teilte ein Sprecher dieses Bundesamtes dem Redaktionsnetzwerk Deutschland mit. Es gab im Jahr 2022 genau 951 Anträge auf „Kriegsdienstverweigerung“ (im Vorjahr nur 201). Laut Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr sind auch die Bewerberzahlen für den militärischen Dienst in der Bundeswehr seit Anfang 2022 rückläufig.
Ein kurioser Gedanke: Was wäre wohl in jenem Amt los am Tage des eintretenden Verteidigungfalls? Würde man dann auch seelenruhig die Begründungen für Gewissensentscheidungen lesen und Kriegsdienstverweigerer ausmustern, während die anderen in den Kampf zur Verteidigung von Nato-Territorium ziehen müssen?
Aber selbst wenn man diesen hypothetischen Fall völlig ausblendet, wie es deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitiker vermutlich entgegen aller Zeitenwende-Rhetorik tun, kann man es durchaus für kurios ansehen, dass es ein institutionalisiertes Recht auf Kriegsdienstverweigerung überhaupt noch gibt, da die Wehrpflicht doch seit 2011 „ausgesetzt“, de facto also abgeschafft ist, und ohnehin niemand mehr gegen seinen Willen veranlasst wird, Soldat zu werden.
Diese Kuriosität hat allerdings Tradition. Denn die „Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ ist älter als Wehrpflicht und Bundeswehr. Dieses Grundrecht, das die Bundesrepublik 1949 als erster Staat der Welt einführte, war natürlich ein unmittelbarer Reflex auf den deutschen Militarismus und vor allem den verbrecherischen Angriffskrieg der Nationalsozialisten. Indem die Väter des Grundgesetzes – in diesem Fall waren es vor allem die sozialdemokratischen – das Gewissen über die Landesverteidigung stellten, reflektierten diese aber nicht nur einen grundsätzlichen Verdacht gegen jegliches deutsche Militär, der nach den Erfahrungen bis 1945 berechtigt erschien, sondern auch, was damals 1948/49 noch für selbstverständlich gehalten wurde: nämlich, dass ohnehin der deutsche Staat nicht völlig souverän sein würde und sich daher auch nicht selbst verteidigen müsse. Landesverteidigung war damit seit dem ersten Tag der Bundesrepublik eine bedingte Angelegenheit.
Mit Gründung der Bundeswehr und Einführung der Wehrpflicht erhielt das Grundrecht konkrete Relevanz – und zwar zunehmend. In der Praxis wurde Wehrpflichtigen die Inanspruchnahme dieses Grundrechtes im Verlaufe der bundesrepublikanischen Geschichte immer einfacher gemacht, indem zum Beispiel 1983 die mündliche Gewissensprüfung endgültig abgeschafft wurde. Und sie wurde auch immer attraktiver, indem die finanziellen Bedingungen und die Dauer des „Zivildienstes“ angepasst wurden. Die Folge war, dass „KDV“ schon seit den 1970er Jahren keine Ausnahmeerscheinung mehr war. Im Gegenteil, spätestens seit den 1980er Jahren mussten sich junge Männer in weiten Teilen der etablierten Gesellschaft eher dafür rechtfertigen, wenn sie nicht verweigerten, sondern „zum Bund“ gingen. „Nützlichkeitsgesichtspunkte, Rentabilitätserwägungen, die Vor- oder Nachteile des Wehrdienstes für das persönliche und berufliche Fortkommen, nicht aber ideologisch-politische Einflüsse prägen Einstellung und Verhalten der jugendlichen Mehrheit“ zum Wehrdienst, stellte 2005 Bernhard Fleckenstein zum 50. Geburtstag der Bundeswehr fest.
Und das „Gewissen“? Die leichte Zugänglichkeit der Kriegsdienstverweigerung dürfte wohl einen gewissen Inflationierungsprozess bewirkt haben. Wenn es mit ein paar Sätzen in einem Brief möglich ist, sich das junge Leben nach der Schule angenehmer zu machen, indem man sich auf so etwas Abstraktes wie das eigene Gewissen beruft, dann tut man es eben leichtfertig.
Bezeichnend für die gesellschaftliche Prävalenz der Kriegsdienstverweigerung: Nur ein aktueller Bundesminister war Soldat, nämlich Christian Lindner. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz nahm bei seiner KDV sein Gewissen nicht ganz so ernst, sondern erlaubte sich in der Begründung seines Antrages einen Scherz – wie er selbst schmunzelnd in einem Funk-Podcast berichtet. Neben den Kriegserfahrungen seiner Eltern und seiner Bewunderung für Martin Luther King habe er in der Begründung auch behauptet, er habe alle Bücher von Karl May gelesen, und die jeweiligen Helden hätten niemals jemanden getötet. Das habe ihn moralisch sehr geprägt. „Irgendwie“, sagte er in dem Interview, „bin ich mit dem Witz durchgekommen.“
Diesen Verweigerungswitz erzählte er übrigens nach seiner „Zeitenwende“-Rede, in der er von der „Entschlossenheit“ spricht, „jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen“. Doch er selbst war dazu eben seinerzeit nicht bereit, wie die anderen Minister, die nun Wehrhaftigkeit gegen Putin predigen, auch nicht. Diese Bundesregierung kann es jenen Bundeswehrsoldaten, die mit dem Krieg in der Ukraine ihr Gewissen entdeckt haben, also eigentlich nicht übelnehmen, wenn sie bei der verordneten Zeitenwende nun doch nicht mitmachen wollen.
Verteidigung, das war schließlich für Scholz und die meisten deutschen Regierungspolitiker früher was für die anderen, die noch so doof waren, zum Bund zu gehen. Und diese große Distanz merkt man Scholz auch deutlich an. Nirgendwo in seinen Reden und Auftritten wirkt der ohnehin spröde Scholz weniger mit dem Herzen bei der Sache, als bei seinen ohnehin sehr seltenen Besuchen bei der Bundeswehr.
Dass Scholz selbst oder irgendjemand sonst im politischen Berlin oder irgendwo anders sein Reden vom Willen zur Verteidigung jedes Nato-Quadratmeters wirklich für bare Münze nimmt, kann man also nicht nur angesichts des fortgesetzten Beschaffungsbürokratismus und der nun mehrfach belegten Unfähigkeit seiner Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bezweifeln. „Verteidigung“ ist im bundesrepublikanischen Politik- und Medienbetrieb von Anfang an – und in der Gegenwart mehr denn je – letztlich eine Unvorstellbarkeit, eine absolute Leerstelle im Erwartungshorizont. Nichts beweist dies klarer als die Tatsache, dass dieser Staat es nicht nur potenziell wehrfähigen Bürgern, sondern sogar aktiven Soldaten de facto freistellt, jederzeit den Dienst zu verweigern.
Und was das Gewissen angeht, auf das sich Kriegsdienstverweigerer in Deutschland berufen können. Grund für ein schlechtes Gewissen hat womöglich nicht nur ein Soldat, der im Verteidigungsfall töten muss, sondern durchaus auch jemand, der dies anderen überlässt, um sein eigenes Risiko zu minimieren. Wenn es Scholz und seinen Mitregierenden wirklich ernst wäre mit der vermeintlichen Zeitenwende, müssten sie diese Debatte offen und ehrlich führen und für so etwas wie Wehrbereitschaft werben. Aber glaubwürdig kann das natürlich niemand tun, der über seine frühere Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, auch vier Jahrzehnte später noch so leichtfertig witzelt wie der Bundeskanzler.