Dass Angela Merkels Sätze oft schief und deren Bedeutung unklar, oder gar absurd sind, ist nach bald 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft keine neue Erkenntnis. Man hat sich daran gewöhnt, von einer Frau regiert zu werden, die den grundlegenden Unterschied zwischen Sein- und Sollen-Sätzen einfach verwuschelt, indem sie zum Beispiel beim Integrationsgipfel sagt: „Wir alle sind Deutschland, das ist das Ziel.“ Sind wir es nun schon, oder sollen wir es erst werden?
Bezeichnenderweise ist dieser schiefe Satz auf der Website der Bundesregierung in ihren Äußerungen in den sozialen Netzwerken und in der Berichterstattung von Redaktionsnetzwerk Deutschland bis ZDF besonders betont worden. Die Unklarheit in Merkels Sprache ist vermutlich ein zentrales Merkmal ihres Politikstils.
Aber ab und an rutschen der Kanzlerin eben dann doch Sätze durch, die deutlich machen, wie sie sich Politik vorstellt, was ihre Vorstellung von ihrer Funktion und von der des Staates ist, und was ihr Anspruch gegenüber den Bürgern ist, und wie sie sich diese Bürger vorstellt (ein Begriff übrigens, den sie sehr selten in den Mund nimmt, im Gegensatz zu „wir“ und „Menschen“).
Eine von den Bürgern gewählte Regierungschefin sagt also den Bürgern, und den eingewanderten (Noch-)Nichtbürgern, wie sie sich fühlen „müssen”.
Diesen Anspruch, mit der Politik in das buchstäblich Innerste der Menschen vorzudringen, machte Merkel noch mehrfach deutlich:
„Wirklicher Zusammenhalt einer Gesellschaft erfordert mehr als nur die Abwesenheit von Hass und Gewalt. Er verlangt auch die Anwesenheit von gelebter Toleranz, Offenheit und Neugierde füreinander.“
Eine Bundeskanzlerin will also die Menschen zu Neugierde verpflichten. Eine innere Einstellung oder Charaktereigenschaft wird damit zu einer Art Bürgerpflicht erklärt.
Der Staat, für den Merkel auf dem gestrigen Integrationsgipfel sprach, scheint sich mittlerweile nicht zuletzt als eine Erziehungseinrichtung zu begreifen, der es längst nicht nur um die Bildung der Menschen geht, sondern um ihre Gefühle und darum, dass die Bürger „begreifen“, was ihnen die Regierenden vorschreiben.
Dafür, dass dies alles nicht abstrakt bleibe, wird gesorgt. Die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz ergänzte in der Pressekonferenz, man habe auch darüber gesprochen, „wie wichtig faktenbasierte Kommunikation“ sei. Was damit konkret gemeint ist, kann man auf der Website der Bundesregierung in der Zusammenfassung der Ergebnisse des Integrationsgipfels lesen:
„Mit „No Hate Speech Movement“ sollen desintegrative Entwicklungen im Netz bekämpft und integrative Ansätze gefördert werden. Weiterhin geht es um Trainings sowie praktische Hilfestellungen im Kampf gegen Hassrede.
Um Diversität in Film, Fernsehen und Redaktionen zu fördern soll der Verein Neue Deutsche Medienmacher*innen in Kooperation mit Medienhäusern und Journalistenschulen Medienschaffende mit Einwanderungs- und Fluchthintergrund gezielt unterstützen und Medienhäuser sowie journalistische Ausbildungsstätten bei der Weiterentwicklung ihrer Diversity-Ansätze beraten.“
Der Staat lässt Medien und journalistische Ausbilder beraten. Der Proteststurm dagegen blieb bei den Betroffenen bislang aus.