Nun spricht auch Ursula von der Leyen von einer allgemeinen Impfpflicht: „Es ist verständlich und angemessen, dass wir jetzt eine Diskussion darüber führen, wie wir eine Impfpflicht in der Europäischen Union fördern und möglicherweise in Erwägung ziehen können“, sagte die Präsidentin der EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel und kündigte eine „Prüfung“ an. Sie begründete dies mit der Ausbreitung der neuen Omikron-Variante und der Tatsache, dass ein Drittel der EU-Bürger bisher nicht gegen das Coronavirus geimpft ist.
Vor einem Jahr, am 17. Dezember 2020, hatte die promovierte Medizinerin gesagt: „Um die Pandemie zu beenden, müssen 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein.” Und am 31. August 2021 gab sie zu Protokoll: „70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind inzwischen vollständig geimpft.” Doch die Pandemie war nicht vorbei. Statt einzugestehen, dass sie sich geirrt und zu viel versprochen hatte – wie fast alle Politiker in Europa – soll jetzt also die Impfpflicht für alle Bürger folgen.
Was von der Leyen „Prüfung” nennt, ist also wohl so zu verstehen: Brüssel testet aus, ob die Mitgliedsstaaten geneigt sind, einen solchen Präzedenzfall der Machtverschiebung hinzunehmen. Aus Berlin ist da wohl am allerwenigsten Widerstand zu erwarten. In einigen anderen Mitgliedsländern, die derzeit ohnehin einem wachsenden Druck ausgesetzt sind, wie etwa Polen und Ungarn, dürfte das anders sein. Da wird es nicht um die Frage von mehr oder weniger Geimpften gehen, sondern um die grundsätzliche Frage der Subsidiaritätsprinzips.
Eigentlich sollte man ja meinen, dass die EU-Kommissionspräsidentin genug mit anderen Themen als der Pandemie zu tun hat. Zumal der einzige größere Beitrag der Kommission in der Pandemiepolitik, nämlich die Impfstoffbestellung, ein Desaster war und kaum ein rationales Argument für eine europaweit vereinheitlichte Pandemiepolitik spricht. Sowohl die Impfquoten als auch das Ausmaß der wichtigen Corona-Zahlen sind schließlich höchst unterschiedlich in den EU-Mitgliedsländern.
Zum Beispiel könnte von der Leyen sich einmal um den in Deutschland seltsam unbeachtet gebliebenen Vertrag kümmern, den Frankreichs Emmanuel Macron und Italiens Mario Draghi kürzlich geschlossen haben. Dazu war von ihr bislang keine Kritik zu vernehmen. Diese neue Achse Rom–Paris ignoriert immerhin die Bestimmungen der Europaverträge, die vorsehen, dass bei einer Vereinbarung verstärkter Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die EU-Kommission zu konsultieren ist, um sicherzustellen, dass sich nicht durch kleine Clubs von Mitgliedstaaten Politikbündnisse bilden, die die Integration der 27 Mitgliedsländer gefährden.
Das wäre allerdings für die Kommissionspräsidentin keine schöne Aufgabe. Es könnte schließlich die deutschen Steuerzahler, die vermutlich die Leidtragenden der italo-französischen Harmonie sein dürften, beunruhigen – und damit die schönen Berliner Europa-Traumtänzereien stören, die die bisherige Merkel-Regierung verordnete und die künftige Ampel-Regierung noch weiterführen möchte mit ihrem Wunsch nach einem „souveräneren“ Europa und einem „dienenden“ Deutschland.
Kümmern könnte sich Ursula von der Leyen aber auch um Missstände in ihrem eigenen Haus – eine noch viel weniger schöne Aufgabe. In der Kommission haben nämlich, wie Zara Riffler in einem lesenswerten Beitrag auf TE zeigt, islamistische Muslimbrüder-Netzwerke ein hohes Maß an Einfluss gewonnen. Über 300.000 Euro machte die Kommission deswegen locker für eine PR-Kampagne, die im Hijab ein Zeichen für „Freiheit“ und „Vielfalt“ behauptete.
Wer Ursula von der Leyens politische Karriere ein wenig nachverfolgt hat, der weiß, dass sie jenes Erfolgsgeheimnis gegenwärtiger deutscher Politiker perfektioniert hat: Nicht um die Aufgaben und Probleme, die die Wirklichkeit oder deine Kompetenzen dir stellen, sollst du dich kümmern, sondern ausschließlich um jene, die öffentliche Aufmerksamkeit bringen, also dich wichtig erscheinen lassen – und dir dadurch noch mehr Macht versprechen.