Tichys Einblick
"Stabilität" als Hohn

Die absehbare Sozialstaatskatastrophe scheint Politik und Betroffenen gleichgültig

Sozialminister Hubertus Heil spricht von „langfristig stabilen Renten“, doch die Ampel destabilisiert langfristig den Sozialstaat. Die Ignoranz der Politik ist nur möglich, weil sich die Öffentlichkeit und erst recht junge Leute für diese langweilige Katastrophe nicht interessieren.

Hubertus Heil, SPD, Bundesminister für Arbeit und Soziales, 03.06.2022

IMAGO / Bernd Elmenthaler

Dass der Wohlstand, den sie jetzt noch genießen, und vor allem das Maß an sozialstaatlicher Absicherung für die heute jungen Menschen rapide sinken wird, ist offensichtlich – auf die Straße treibt das bislang niemanden. 

Meldungen aus der Deutschen Bundesbank haben bei Teens und Twens offensichtlich weniger Mobilisierungspotenzial als Aufrufe von Greta Thunberg, freitags „für (ihre) Zukunft“ zu demonstrieren. Teile der Bewegung haben sich als „Letzte Generation“ in eine Art Endzeit-Angst geradezu religiöser Art hineingesteigert. Andere Bedrohungen, deren Ausmaß mindestens ebenso sicher vorhersagbar sind, haben die junge Generation bislang so gut wie gar nicht politisiert. 

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Doch was eben jene Bundesbank gerade vorrechnete, sollte junge Menschen eigentlich nicht kalt lassen: Die Rentenpläne der Ampel, also die Abkehr vom demographischen Lastenausgleich, würden den Beitragssatz für die Rentenversicherung auf 29 Prozent im Jahr 2070 hochtreiben. Zudem müssten die Zuschüsse aus dem Bundesetat in einem Maße steigen, das etwa 6 Prozentpunkten Mehrwertsteuererhöhung entspricht. 2070 klingt weit weg, ist es auch. Diejenigen, die heute Rentenpolitik machen, wie der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), dürften das Jahr nicht mehr erleben. Aber die Generation Greta wird dann gerade erst selbst in Rente gehen wollen. 

Zum Vergleich: Auch wenn man es beim heutigen Rentenrecht beließe, würde der Beitragssatz bis 2070 auf 25 Prozent zeigen. Ob „nur“ 25 oder 29 Prozent – es liegt auf der Hand, dass beides für künftige Beitragszahler, und zwar die Beschäftigten ebenso wie die Arbeitgeber, kaum tragbar sein wird. Zumal die Krankenkassenbeiträge auch deutlich steigen dürften.  

Aktuelle Rentner müssen sich, sofern sie nicht an ihre Enkel denken, darum nicht sorgen. Sie erhalten bald eine deutlich höhere Rente. Ab 1. Juli sollen in Westdeutschland die Renten um 5,3 Prozent und in Ostdeutschland um 6,1 Prozent steigen. „Wir wollen langfristig die Renten stabil halten“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil. Dass er angesichts der Zahlen der Bundesbank, die weder ihn noch sonst jemanden wirklich überraschen können, von „Stabilität“ spricht, ist für die jetzigen und vor allem künftigen Beitragszahler wie ein Hohn.

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Kann Heil wirklich wollen, dass seine beiden Kinder, laut Presseberichten 2012 und 2014 geboren, als Erwachsene derartige Beiträge zahlen werden, zu denen dann noch deutlich gestiegene Steuern dazu kommen? Oder ist Heil, dem Arbeitsminister, der abgesehen von einem Zivildienstjahr beim Paritätischen Wohlfahrtsverband nie jenseits des staatsfinanzierten Politikbetriebes gearbeitet hat, ein Leben als Beitrags- und Steuerzahler in Wirklichkeit so fremd, dass er für ihre Belange jegliche Empathiefähigkeit verloren hat?

Seit Jahrzehnten ist klar: Der Generationenvertrag gerät immer stärker in eine Schieflage. Aus dieser entsteht eine für die jetzigen Kinder und jungen Menschen unausweichliche Krise oder gar Katastrophe. Doch es scheint so, dass die Welle der künftigen Belastungen durch gegenwärtige Ausgaben in der politischen Klasse niemanden mehr wirklich interessiert. Auch die mitregierende FDP hat ihre Forderung nach ersten Schritten zu einer kapitalgedeckten Altersversorgung, an der vernünftigerweise eigentlich kein Weg vorbeiführen sollte, wieder zur Seite gelegt. 

Die Rentenerhöhung und Heils Aussagen zeigen, dass die Ampel nicht nur nichts gegen die Schieflage tut, sondern sie sogar noch weiter verschärfen wird, indem sie den bisherigen Lastenausgleich zwischen den Generationen auflöst: Der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor sorgte dafür, dass Renten langsamer steigen als Löhne und Gehälter, wenn die Beitragszahler für eine stark steigende Zahl Rentner aufkommen müssen, wie dies mit dem Renteneintritt der Babyboomer geschehen wird. Das schafft Heil nun ausgerechnet mit dem Wort Stabilität auf den Lippen ab.

Die Politik verspricht allerorten ökologische Nachhaltigkeit, doch im Sozialsystem sorgt sie für das ökonomische Gegenteil. Der künftige Zusammenbruch durch Überforderung wird in Kauf genommen. Das Motto der Marquise de Pompadour (1721–1764) – „Nach uns die Sintflut!“ – , das Karl Marx als „Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation“ bezeichnete, ist längst auch das Motto der Sozialstaatspolitiker.  

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Die Öffentlichkeit, vor allem aber diejenigen, die sozialstaatliche Sintflut erleiden werden, nehmen das bislang hin. Deswegen erscheint Politikern gerade gegenüber jungen Menschen, die verständlicherweise an so langweilige Themen wie Rentenbeiträge nicht denken wollen, die Befriedigung von emotionaleren Bedürfnissen und (noch) recht abstrakten Ängsten, wie der vor der Klimakatastrophe, attraktiver als die Stabilisierung der Sozialsysteme, die jetzt sehenden Auges vor die Wand gefahren werden.

Kritik an sozialen Staatsausgaben erscheint immer hartherzig. Und der Politikbetrieb hat eher den gegenwärtigen Gefühlshaushalt der Öffentlichkeit als die realen ökonomischen Aussichten im Blick. Ersterer zahlt sich in Sympathie aus, Letztere machen – angesichts einer unvermeidbaren Inflation und absehbar abnehmender Wettbewerbsfähigkeit der Industrie – depressiv. 

Eine verantwortungsvolle, wirklich zukunftsorientierte Politik würde trotzdem alles daran setzen, die soziale Umverteilungsmaschinerie des Staates in ein Gleichgewicht zu setzen mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Denn kein Staat kann auf Dauer, also nachhaltig, einen immer weiter wachsenden Teil der ökonomischen Leistungsfähigkeit seiner Bürger beanspruchen. Dies ist eine Daueraufgabe. Doch seit dem Ende der Hartz-Reformen unter Kanzler Schröder hat sich keine Bundesregierung auch nur halbherzig darum bemüht. Längst ist die Sozialquote schon höher als vor den Hartz-IV-Reformen.

Was damals als Alarmzeichen galt und Dauerthema in Sabine Christiansens Talkshow war, wird heute achselzuckend hingenommen, ja sogar noch verschärft. Einer tendenziell zumindest im globalen Vergleich durch Demografie, Energiewende und jetzt den Gas-Mangel schwächer werdenden Volkswirtschaft werden zusätzliche Lasten aufgebürdet. Der Esel bekommt weniger Futter, soll aber mehr tragen. Und praktischerweise beschwert sich der Esel (nennen wir ihn BDI, oder Auto-Industrie) noch nicht einmal…

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Die Skepsis Ludwig Erhards gegen kollektive soziale Sicherungssysteme kann aus heutiger Sicht, 55 Jahre nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler, also als empirisch bestätigt gelten. In seiner Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963 stellte Erhard fest: „Wenn ich den Raum, den die Haushaltslage der kommenden Jahre für soziale Leistungsverbesserungen offenlässt, in Beziehung zu den Vorstellungen setze, die in dieser Richtung gehegt werden, zwingt das Gebot der Stabilität zu der Feststellung, dass wir, wie schon gesagt, nach Wertigkeit, Dringlichkeit und Nützlichkeit im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ein Bezugssystem und einen längerfristigen Zeitplan aufstellen müssen. Lassen Sie mich ein offenes Wort sprechen: Wir müssen uns entweder bescheiden oder mehr arbeiten.“

Dieses „offene Wort“ ist bald 60 Jahre später noch aktueller als damals. Doch das „Gebot der Stabilität“ ist ganz offensichtlich außer Kraft gesetzt. Die Generation Ludwig Erhards, der als junger Soldat den ersten Weltkrieg, als Student die Hyperinflation und dann schließlich noch einen zweiten Weltkrieg und einen völligen Zusammenbruch samt zweiter Geldentwertung erlebte, wusste um den Wert dieses Gebotes – wie alle Deutschen mit entsprechenden Erfahrungen. Die heute jungen Menschen werden es wohl wieder erfahren. 

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