Robert Habeck will „das Land nochmal frisch denken“, sagte er am Dienstagmorgen in einer Pressekonferenz zur Vorstellung der „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“. Das Frische ist ganz konkret ein „Klimaschutz-Sofortprogramm“, mit dem die neue Bundesregierung den Rückstand der alten Regierung – für Habeck „in allen Sektoren unzureichend“ – bei der Erfüllung der Ziele des neuen Klimaschutzgesetzes aufholen will. Das erfordere „bis 2030 fast eine Verdreifachung der bisherigen Geschwindigkeit der Emissionsminderung. Während im letzten Jahrzehnt die Emissionen im Durchschnitt jährlich um 15 Millionen Tonnen gesunken sind, müssen sie von nun an bis 2030 um 36 bis 41 Millionen Tonnen pro Jahr sinken.“ Bis 2030 soll der Anteil der Erneuerbaren an der Energieversorgung von gegenwärtig (2021) 42,6 Prozent auf 80 Prozent steigen.
Habecks Botschaft war also: Jetzt geht es mit dem Klimaschutz erst richtig los.
Letztlich ist diese große Klimaoffensive, deren Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen schon bis Ende 2022 abgeschlossen sein sollen, gegen zwei ungenannte Widerstandslinien gerichtet, die Habeck und sein Staatssekretär Patrick Graichen brechen wollen: Naturschutz und Lebensqualität der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten (also letztlich überall in Deutschland) einerseits und die bisherige, liberale, marktorientierte Wirtschaftsordnung andererseits.
Offenbar meint Habeck auch diese Umgewichtung der Schutzgüter mit „frisch denken“, wenn er sagt, dass „entweder oder“ bei Klimaschutz und Naturschutz die „falsche Fragestellung“ sei. Man müsse sie eben gemeinsam denken. Was diese Gemeinsamkeit für den Natur- und Artenschutz bedeutet, wenn Schutzgüter künftig „nachrangig“ sein können, und wie die Auswirkungen der „Bündelung der Verfahren“ für die Bürgerbeteiligung bei Windkraftprojekten sein werden, kann man sich denken.
Die zweite Widerstandslinie – nämlich die „Soziale Marktwirtschaft“ der alten Bundesrepublik – ist bereits durch jahrzehntelange Vorarbeit anderer Bundesregierungen weidwund. Ihr dürfte nun unter der Flagge des Klimaschutzes weitgehend der Garaus gemacht werden.
Einerseits wird dies geschehen, indem die auch von Habeck unbestrittenen finanziellen Härten der forcierten Energiewende, also steigende Strompreise, die vor allem Geringverdiener treffen, durch weitere staatliche Umverteilungsmaßnahmen beantwortet werden, die schon im Koalitionsvertrag als „sozialpolitische Flankierung“ verklausuliert werden: eine Entlastung von 300 Euro pro Geringverdiener-Haushalt, höheres Wohngeld, Anhebung des Mindestlohns. Habeck erwähnt dann in der Pressekonferenz noch, man werde wegen der steigenden Stromkosten „eine zweite oder dritte Sicherungslinie prüfen“. Die grüne Klimaschutzoffensive dürfte also die ohnehin schon wuchernde Umverteilungsbürokratie des deutschen Sozialstaates weiter expandieren lassen. Und für die Millionen von Mittelschichthaushalten, die nicht in den Genuss der sozialpolitischen Flankierung kommen, bedeutet Klimaschutz schlicht: Die höheren Preise, also die Verarmung, sind hinzunehmen.
Konkret stellt Habeck der Industrie sogenannte Klimaschutzdifferenzverträge in Aussicht. Mit diesen verpflichtet sich der Staat, die Mehrkosten klimaneutraler Produktionsverfahren auszugleichen. Mit „Superabschreibungen“ sollen „neue Anreize für den Einsatz klimafreundlicher Technologien“ geschaffen werden. Wenn Klimaschutz derart zu einem staatlichen Risikosenkungsprogramm wird, dürfte das für Unternehmen eine unwiderstehliche Verlockung sein. Nur hat es eben mit freiem Unternehmertum nichts mehr zu tun. So werden Unternehmen vom Staat abhängig und politischen Zielen verpflichtet.
Auf das fundamentale Problem der Energiewende, dass nämlich die erneuerbaren Energielieferanten Wind und Sonne unzuverlässig sind, findet auch die neue Bundesregierung keine andere Antwort als: noch mehr Erneuerbare. Auf die Frage, warum er denn auch nach 10 Jahren keinen Plan für den gleichzeitigen Atom- und Kohleausstieg habe, reagierte Habeck grantig. Er habe doch heute gar nicht über Atomenergie gesprochen, und den Plan stelle er doch gerade vor.
Eine andere Frage nach dem Ersatz des Atom- und Kohlestroms durch Importe beantwortete Habeck mit einer erneuten raffinierten Umkehrung der Argumente: „Der Anteil von Atom im Energiemix ist sehr gering, es sind drei Gigawatt installierte Leistung, und die laufen ungefähr immer, weil die Atomkraftwerke ja nicht besonders schwankungsaffin sind.“ So vermittelt er den Eindruck, nicht die Unzuverlässigkeit der Erneuerbaren, sondern die vermeintliche Inflexibilität der Kernkraftwerke sei das Problem für das Stromnetz.
Habecks Bemerkung, der Ersatz von Atom und Kohle hänge „ein bisschen vom Ausbau der Erneuerbaren ab“, wurde schließlich von seinem Staatssekretär in verklausulierter Weise korrigiert. Der gestand nämlich, dass Deutschland zwar gegenwärtig Nettostromexporteur sei, die Bilanz aber 2023 „etwa ausgeglichen sein“ werde, mit anderen Worten: Deutschland wird eben doch künftig mehr Strom aus dem Ausland importieren müssen.