Führen bedeutet immer auch, das Wichtige vom weniger Wichtigen zu unterscheiden. Für wichtige Ziele müssen weniger wichtige Vorhaben hintangestellt, oft auch ganz geopfert werden. Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist zumindest in der politischen Kommunikation der deutschen Regierenden der Eindruck vermittelt worden, dass die Unterstützung der Ukraine und die Eindämmung des putinistischen Russland durch dessen ökonomische Schwächung höchste Priorität habe. Innerhalb der Ampel-Koalition sind ausgerechnet die bis dahin vermeintlich radikalpazifistischen Grünen hierbei besonders hervorgetreten.
Aber wo die wirklich höchste Priorität der Grünen liegt, wird gerade in den letzten Tagen überdeutlich. Wichtiger als die Ukraine und der Kampf gegen Putin ist den den Grünen ein altes Dogma, nämlich das von der Kernkraft als Inbegriff des politisch Bösen. Während der frühere grüne Schein-Glaubenssatz der Ablehnung von Waffenexporten in Kriegs- und Krisengebiete im Handumdrehen auf dem Kehrichthaufen grüner Politikpositionen landete, wird dieses Dogma mit fadenscheinigen Argumenten und Tricksereien verteidigt.
Die Diabolisierung der Kernenergie, die mit dem Feindbild vom vermeintlichen „Atomstaat“ auch eine kulturrevolutionäre Seite hatte, scheint den Grünen eine Art politischer Nibelungenschatz zu sein, den man auf keinen Fall aufgeben darf – koste es (die Deutschen) was es wolle. Die Anti-Atom-Bewegung der 1970er Jahre war schließlich der Gründungsmythos der Partei. Und noch immer lassen sich unter der „Atomkraft-Nein-Danke“-Flagge die aktivistischen Fußtruppen mobilisieren.
Nicht nur der Opposition (und wenigstens Teilen des Koalitionspartners FDP) ist natürlich klar, dass das Ausschalten der noch laufenden und das Nichtwiederhochfahren der noch betriebsfähigen abgeschalteten Kernkraftwerke die ökonomisch zerstörerische Wirkung der ausbleibenden Gaslieferungen aus Putins Reich noch verschärfen wird. Habeck und seine Parteifreunde wissen das selbstverständlich auch – und machen sich durch ihre halsstarrige Ablehnung der Atomkraft letztlich zu Helfern Putins, indem sie die von ihm beabsichtigte ökonomische Schwächung Deutschlands und damit Spaltung und Destabilisierung Europas und des Westens noch verstärken. Die grüne Anti-Atom-Ideologie treibt übrigens auch über die weitere Energieverknappung und -verteuerung die grassierende Inflation. Sie schadet damit unmittelbar vor allem der jungen Generation, als deren Stimme die Grünen sich sonst gerne verstehen und von der sie überproportional gewählt werden. Vom Widerspruch zwischen der Ablehnung der emissionsfreien Kernenergie und dem sonst so forcierten Klimaschutz nicht zu reden.
Dasselbe gilt übrigens auch für die ebenso verbockte grüne Ablehnung des Frackings im eigenen Land, also des Abbaus heimischer Schiefergas-Vorkommen. Auch hier hatte die Merkel-Regierung in fataler Weise die Agenda der Grünen umgesetzt. Nun aber importiert man bereitwillig kanadisches und US-amerikanisches Fracking-Gas.
Ob Habeck, die grüne Partei und ihr weit über die Partei hinausgehendes meinungsmachendes Umfeld die seit den 1970er Jahren gepflegte irrationale Atomkraft-Phobie über den Winter retten können, wenn der von ungeheizten Wohnungen, Produktionseinschränkungen und extremer Verteuerung grundlegender Versorgungsgüter bestimmt sein wird, ist allerdings fraglich. Es wäre nicht das erste mal in der Bundesrepublik, dass eine regierende Partei eine Politik gegen ihre eigene Herkunftsgeschichte macht.