Nein, Greta Thunberg hat nicht wörtlich gesagt, dass sie „das ganze kapitalistische System“ umwerfen möchte, wie es aus einem Medienbericht herauszulesen war. Die Formulierung stammte von ihrer Interviewerin, der BBC-Moderatorin Samira Ahmed, die aber während des gesamten Gesprächs beim „Greta Thunberg: The Climate Event“ im Londoner „Southbank Centre“ so einvernehmlich mit ihr sprach, dass ihre Aussagen kaum noch voneinander zu trennen waren.
Thunberg twitterte zwei Tage später: „Die Klimaleugner und Verzögerer sind so verzweifelt und fühlen sich derart bedroht, dass sie einfach ihre eigenen Zitate aus puren Lügen und Fantasien erfinden.“ Man muss allerdings weder lügen, noch allzu viel Fantasie besitzen, um aus Thunberg Aussagen an diesem Abend vor einem begeistert klatschenden Publikum tatsächlich einen zumindest indirekten Aufruf zum Umwerfen nicht nur des kapitalistischen Systems herauszuhören. Da gab sie sich nämlich weniger als Schützerin der Natur, sondern eher als Sozialrevolutionärin.
Aber hören wir einmal hinein, in diesen Auftritt und nehmen wir Thunberg beim Wort: „Was wir normal nennen, ist ein extremes System, errichtet auf der Ausbeutung von Menschen und Natur. Es ist ein System definiert durch Kolonialismus, Imperialismus, Unterdrückung und Völkermord vom so genannten globalen Norden zur Anhäufung von Wohlstand, das immer noch unsere gegenwärtige Weltordnung bestimmt.“ Und die daraus entstehende „Nachhaltigkeitskrise“ habe ihre „Wurzeln in rassistischem, unterdrückerischem Extraktivismus, der Menschen und den Planeten ausbeute, um kurzfristigen Profit für wenige Glückliche zu maximieren“.
Wer bis dahin noch nicht verstanden hatte, dass das Phänomen Greta Thunberg ganz offenkundig nicht nur vom Klimaschutz handelt, sondern sie mit ihrer Agenda tatsächlich das gesellschaftliche System als solches angreift, dem wurde nicht nur durch die hier zitierte Aussage, sondern auch durch Begriffe wie „faschistische Bewegungen“ – inklusive einer Anspielung auf die neue Regierung ihres Heimatlandes Schweden – klargemacht, dass Thunbergs Bewegung keineswegs politisch neutral und überparteilich ist. Mehrfach sprach sie auch von Klima-Gerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit, die nur zusammen zu haben seien.
Wie viele Menschen „noch immer unterdrückt“ würden, werde zu wenig mit der Klimakrise verbunden. „Die Leute, die in der Geschichte ausgebeutet wurden, sind auch diejenigen, die jetzt am meisten unter der Klimakrise leiden.“ Auch berichtete sie auf der Bühne in London wie im Buch von einem Besuch in Minnesota, in den USA, wo ihr klar geworden sei, dass auch die schwedischen Einwanderer dort „Kolonisatoren“ gewesen seien. Das gipfelte dann in dem Satz: „Schweden war eine koloniale Nation“. Die junge Schwedin gibt also nun der woken, „postkolonialen“ Linken ihres Heimatlandes endlich einen Grund, auch die eigene Nation für verbrecherisch, historisch schuldbeladen und abschaffungswürdig zu halten.
Das ist so abwegig, versponnen und verwirrt, dass sich unter historisch einigermaßen gebildeten Menschen eigentlich jede weitere Erörterung von selbst verbietet. Aber Samira Ahmad widersprach ihr nicht.
Beachtens- und bedenkenswerter als all das, was Greta Thunberg von sich gibt, ist die Tatsache der enormen Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird. Dass erwachsene Menschen, ja, die Weltöffentlichkeit fasziniert und andächtig lauscht, wenn eine 19-jährige Schulabbrecherin über grundlegende Fragen der Welt doziert – das hat es mindestens seit Jeanne d’Arc wohl nicht mehr gegeben. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man es wohl noch für einen komische, absurde Vorstellung gehalten, die dem Selbstverständnis aufgeklärter Gesellschaften widerspräche. Selbst ein Philosophengenie wie Friedrich Nietzsche wurde erst mit 25 Jahren Professor (was ein akademisches Ereignis war) und schrieb seine wichtigeren Werke als Über-30-Jähriger. Und sogar Jesus war über 30, als er seine kurze Restlebenszeit als Wanderprediger begann.
Apropos Religionsstiftung: Nach Aussage des künstlerischen Direktors des Southbank Centres, der sie vor ihrem Auftritt einführte, erzählt Thunbergs Buch „die größte Geschichte in der Welt“. Nur zur Einordnung: „Die größte Geschichte aller Zeiten“, ein seinerzeit (1949) bekanntes Sachbuch – 1965 unter demselben Titel mit einem großartigen Max von Sydow verfilmt – behandelte selbstverständlich die Geschichte des Jesus von Nazareth. Damals war unter westlichen Lesern und Kinogängern noch klar, dass nur Seine Geschichte die größte sein kann. Während Jesus also seinerzeit erst den Kreuzestod sterben, und die Evangelisten seine Geschichte aufschreiben mussten, um Jahrhunderte später diesen Status zu erreichen, genügen Thunberg dafür im frühen 21. Jahrhundert „Schulstreiks“ und einige prominente Mitautoren für „Das Klima Buch“.
Thunberg kann allein aus Altersgründen weder mit akademischen noch praktischen oder sonstigen Kenntnissen über den Kapitalismus oder sonst irgendein sozioökonomisches System der Gegenwart oder Vergangenheit dienen. Aus demselben Grund hat sie auch keinen Schimmer von der Geschichte der schwedischen Einwanderer in den USA und dem Kolonialismus. Es ist nichts als eine unbedeutende Naseweiserei, wenn eine 19-jährige Schulabbrecherin schreibt: „Den kapitalistischen Konsumismus und die Marktwirtschaft als dominierenden Verwalter der einzigen bekannten Zivilisation im Universum zu belassen, wird höchstwahrscheinlich im Rückblick als eine schreckliche Idee erscheinen. Aber lasst uns nicht vergessen, dass in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit alle bisherigen Systeme gescheitert sind. Genau wie alle aktuellen politische Ideologien – Sozialismus, Liberalismus, Kommunismus, Konservatismus, Zentrismus, was auch immer. Sie alle sind gescheitert. Aber, fairerweise, einige sind sicherlich mehr als andere gescheitert.“
In einem lichten Moment an diesem Abend in London zeigt Thunberg sogar Humor, als sie den Widerspruch zwischen ihrem Anspruch, die Menschen zu unterrichten, und ihrem „Schul-Streik fürs Klima“ lächelnd zugibt: das sei ein bißchen ironisch.
Da hätte man sich statt Samira Ahmad einen mitdenkenden Interviewer gewünscht, oder auch nur einen einsamen Zwischenrufer aus dem Publikum nach Art des Kindes in Andersens Märchen: „Der Kaiser ist ja nackt!“. Eine alte Frau dementsprechend, die gerufen hätte: „Da sitzt nur eine 19-Jährige!“
Aber das geschah nicht. Stattdessen lachte die renommierte Journalistin Samira Ahmad und strahlte Thunberg bewundernd an und die Zuschauer applaudieren immer wieder begeistert.
Das einzige Feld, auf dem Thunberg wirklich einmalige Erfahrungen gemacht (und vielleicht auch tiefe Erkenntnisse gewonnen) hat, aus denen es sich zu lernen lohnte, ist das Feld der politmedialen Agitation. Wer weiß, vielleicht schreibt Thunberg eines Tages, aber bitte frühestens im reifen Alter von 30 Jahren, mal ein wirklich offenes autobiographisches Buch, Arbeitstitel „Being Greta Thunberg“, in dem sie dann auch von all jenen berichtet, die ihr beibrachten, was sie den andächtigen Zuhörern von dem „rassistischen, unterdrückerischen Extraktivismus“ erzählen solle.