Kein Tag vergeht mehr in diesem Sommer ohne neue Schreckensnachrichten und Warnungen vor dem nächsten Winter. Über politische Gegenmaßnahmen hört man allerdings seltener. Stattdessen haben sich nicht nur Politiker, sondern auch Behördenleiter, Wirtschaftslenker und andere öffentlich Angehörte einen dozierenden Ton zugelegt, der feststellt, was man selbst schon weiß, und naseweise Ratschläge zur Selbsthilfe erteilt.
Heute liegt wohl Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger an der Spitze der Aufmerksamkeitshitliste. „Wir“ stünden, so sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung „vor der größten Krise, die das Land je hatte“. Und: „Das bleibt nicht auf die Industrie beschränkt, sondern trifft alle. Das ist eine völlig neue Situation. Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren.“
Müller hat sich auch schnell an den Schweinchen-Schlau-Ratgeber-Tonfall angepasst, den Politiker sich gegenüber Bürgern zugelegt haben. Neben dem Tipp, die Heizung sparsam einstellen zu lassen rät er: „Erhöht freiwillig euren Abschlag oder legt jeden Monat etwas Geld zurück, etwa auf ein Sonderkonto.“
Während Müller aber noch davon ausgeht, dass die europäische Rechtslage gilt, wonach Privathaushalte vorrangig mit Gas versorgt werden, zeichnet sich ab, dass das nicht zu halten sein wird. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte schon deutlich gemacht, dass „eine dauerhafte oder langfristige Unterbrechung von industrieller Produktion … massive Folgen“ für die Versorgungssituation hätte. In einem heute bekannt gewordenen Entwurf eines Notfallplans der Europäischen Kommission, der am 20. Juli vorgestellt werden soll, heißt es nun: „In Notfällen können die Mitgliedstaaten beschließen, der Gasversorgung bestimmter kritischer Gaskraftwerke Vorrang vor der Gasversorgung bestimmter Kategorien geschützter Kunden einzuräumen, sofern die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung gefährdet sein könnte.“
Koordinierter politischer Widerstand gegen die Nichtmehrpriorisierung der Privathaushalte scheint kaum in Aussicht zu stehen. Jetzt sagt auch der CDU-Oppositionspolitiker Roderich Kiesewetter: „Man kann sich wärmer anziehen. Wichtig ist, dass die Wirtschaft am Laufen bleibt.“
Und erinnert sich noch jemand daran, wie einst ein gewisser Berliner Finanzsenator namens Thilo Sarrazin gescholten wurde, als er 2008 einen Pullover gegen (deutlich weniger steil) steigende Heizkosten empfahl? Was damals als „Pulli-Provokation“ (Spiegel) verurteilt wurde, ist heute also der politischen Weisheit letzter Schluss.
Mehr als der Spitzenbeamte Müller, der Spitzenpolitiker Kiesewetter und der Spitzenlobbyist Montgomery mit ihrer Spar- und Pullover-Empfehlung hat letztlich auch die Europäische Kommission mit ihrem Notfallplan, dessen Entwurf jetzt durchsickerte, nicht zu bieten. Der Plan besteht letztlich vor allem aus Spar-Appellen. Öffentliche Gebäude nur auf 19 Grad heizen! Was für eine geniale Idee! In dem Entwurf steht laut Presseberichten auch: „Je höher die Reduzierung durch freiwillige Maßnahmen ist, desto geringer ist die Notwendigkeit obligatorischer Einschränkungen für die Industrie.“ Ach!
Doch, wie in jeder Krise, wird es auch in dieser Gewinner geben. Denn, wie bei regierungsseitigen Simulieren von politischem Handeln üblich, soll es nach dem Willen der Brüsseler Kommission eine breit angelegte öffentliche Kampagne zum Gas-Sparen geben. Die Chance, die eigenen Weisheiten allerorten unters Volk zu bringen, lässt sich kein Regierender entgehen. So verdienen dann wenigstens die PR-Agenturen als Auftragnehmer der Brüsseler Bürokraten an der Gas-Not.