Tichys Einblick
Die G7-Konferenz als Inflationstreiber

Die Milliarden für die Ukraine und die Frage, die deutsche Regierungspolitiker nicht stellen

Während Steinmeier in Kiew seine persönliche Wiedergutmachung zelebriert und die G7-Staaten schon über künftige Machtverhältnisse beim Wiederaufbau verhandeln, scheint sich für die wichtigste Frage kein Politiker zu interessieren: Wer soll all das bezahlen, wenn die Wirtschaft gerade abgebaut wird?

Denys Shmyhal, Ministerpräsident, Republik Ukraine, Bundeskanzler Olaf Scholz und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Berlin, 25.10.2022

IMAGO / Christian Spicker

Der Interview-Termin war sicher mit Bedacht gewählt. Just zum Beginn der G7-Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine und des Besuchs des deutschen Staatsoberhauptes in Kiew erschien diese zentrale Aussage des Wirtschaftsberaters von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Alexander Rodnyansky, in den Zeitungen der „Funke Mediengruppe“: „Wir brauchen jeden Monat vier bis fünf Milliarden Dollar für unseren Haushalt. Wir glauben, dass Deutschland etwa 500 Millionen Dollar pro Monat übernehmen könnte, vor allem mit Blick auf das Jahr 2023. Von der EU insgesamt erhoffen wir uns rund zwei Milliarden Dollar pro Monat.“ Pro Monat, also sechs beziehungsweise 24 Milliarden im Jahr. Denn: „Der Staat muss funktionieren, die Renten müssen ausgezahlt werden.“ Zweifellos, aber die Staaten und Rentensysteme Deutschlands und der anderen Geber müssen auch funktionieren und dafür müsste erstmal die Wirtschaft funktionieren, die dafür sorgt, dass die Milliarden fließen können – beziehungsweise überhaupt etwas wert sind.

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Der Besuch – im dritten Anlauf – des deutschen Bundespräsidenten in Kiew liegt für diese Wünsche natürlich auch perfekt. Frank-Walter Steinmeier, der vor nicht allzu langer Zeit als Außenminister noch vertraute, fast zärtliche Gesten mit Putins Handlanger Lawrow austauschte, hat schließlich etwas gutzumachen. Übersetzt ins Steinmeierische heißt das: „Mir war es wichtig, gerade jetzt ein Zeichen der Solidarität zu senden.“ Im Zeichen senden und hehre Worte reden ist Steinmeier ganz groß, also wirklich ein Repräsentant der deutschen politischen Klasse. 

Dass die Ukraine sich eine institutionalisierte Dauerfinanzierung ihres Staatshaushaltes durch die EU, also nicht zuletzt Deutschland, wünscht, ist verständlich. Verständlich ist auch, dass Regierungschef Denys Schmyhal in einem nationalen Wiederaufbauplan seines Landes die astronomische Summe von 750 Milliarden Dollar nennt, während die Weltbank von „nur“ 349 Milliarden ausgeht, die die Ukraine zum Wiederaufbau benötige. Da der Krieg weiter wütet, sind alle Schätzungen ohnehin Makulatur.

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Die heute in Berlin beginnende G7-Konferenz zum „Wiederaufbau“ und vor allem das bei solchen Gelegenheiten unvermeidliche Wort von einem Marshall-Plan, das Olaf Scholz und Ursula von der Leyen in einem gemeinsamen Zeitungsbeitrag (in schauerlichem Deutsch) rezitieren, erscheinen als Ausdruck der Hybris einer politischen Klasse, die schon vorwegnehmend in einer irrealen Wunschzukunft schwelgt, die sie selbst als Retter ermöglichen – während die Wirklichkeit eine ganz andere ist: Der Krieg ist schließlich nicht vorbei, ein Ende noch unabsehbar, alles, was jetzt wieder aufgebaut wird, kann umgehend wieder zerstört sein. Und das Geld der westlichen Geberländer, das den Wiederaufbau ermöglichen soll, existiert nur aus Plänen, neue Schulden aufzunehmen.

Um Summen geht es bei den Verhandlungen vermutlich ohnehin nicht. Sondern um das, was die tonangebenden Kreise in Brüssel, Washington und anderen westlichen Hauptstädten längst viel mehr interessiert, als das schuldengenerierte Geld selbst, das ohnehin einen immer irrealeren Charakter annimmt, da niemand noch wirklich annehmen kann, dass es jemals durch reale, materielle, erwirtschaftete Werte gedeckt wird. Es geht stattdessen darum, wer diese Summen lenkt, also wer die Macht in neu zu schaffenden Behörden bekommt. Von der Leyen will diese Macht gerne in ihrer Kommission bündeln, schlug schon im Mai dafür die Schaffung einer „Ukraine Reconstruction Platform“ vor, gemeinsam gemanagt von der ukrainischen Regierung und der Kommission. 

Das wird sich Washington aber absehbar nicht bieten lassen. Der einflussreiche German Marshall Fund hat stattdessen vorgeschlagen, die Koordination in die Hände der G7 zu legen, und der oberste Koordinator müsse natürlich ein amerikanischer Politiker von Statur sein, weil nur die USA eine Koalition schmieden und einen Konsens unter den Geldgebern aushandeln könnten. Und damit dürfte die regierungsnahe Denkfabrik wohl richtig liegen. 

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Für Deutschland, das ist schon absehbar, ist seine traditionelle Rolle in internationalen Arrangements vorgesehen: viel bezahlen, wenig entscheiden. In diese Rolle hat sich die Ampel-Koalition offenbar schon gefügt, indem sie vergleichsweise nur wenige Waffen lieferte und liefert – ob aus Angst vor Putins Rache (die allerdings in Form eingestellter Gaslieferung ohnehin schon erfolgt ist) oder aus anderen, womöglich tief in sozialdemokratisch-nachkriegsdeutschen Befindlichkeiten verwurzelten Gründen, bleibt ungeklärt. Klar ist jedenfalls, dass diese  Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen sowohl der Ukraine als auch den anderen Gebern ein Argument an die Hand gibt, stattdessen umso mehr finanzielle Hilfe einzufordern. Dass die enormen Aufwendungen für die Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge hierbei nicht eingerechnet werden, liegt auf der Hand. Deutschlands Einwanderungspolitik hat schließlich spätestens seit 2015 selbst dafür gesorgt, dass diese Kosten so intransparent wie irgendmöglich sind. Einwanderungskosten zu beziffern und zu problematisieren, ist in Berlin tabu – und das wissen auch die Ukrainer. 

Ebenfalls tabu dürfte die eigentlich zentrale Frage hinter dem Wiederaufbau- und Marshall-Plan-Geraune der G7-Konferenciers und den Solidaritätssprechblasen des deutschen Bundespräsidenten in Kiew sein. Sie zu stellen ist für Regierungspolitiker unbequem, weil die Antwort darauf sehr viel mit ihrer eigenen Verantwortung zu tun hätte, also die Bürger beunruhigen könnte. Sie wurde von der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Antje Hermenau am Montagabend in der Talkshow „Hart aber Fair“ gestellt: „Wer soll denn die Ukraine wieder aufbauen, wenn wir uns ökonomisch ins Schwert stürzen?“

Die deutsche Politik hat sich de facto entschieden, auf ökonomischen Zuwachs aus ökologischen Gründen zu verzichten, ja, sogar deutliche Einbußen hinzunehmen. Wegen des Mangels billiger Energieressourcen ist das auf längere Sicht wohl sogar tatsächlich unvermeidlich. Auch wer die drängenden Gefahren des Klimawandels oder anderer ökologischer Probleme nicht wahrhaben will, kommt daran nicht vorbei: Alle fossilen Energiequellen, auch Frackinggas, werden irgendwann zur Neige gehen. Aber Energiewende-Deutschland verzichtet schneller als es notwendig wäre und mindert damit auch relativ zu anderen Industrieländern seine und damit Europas Fähigkeiten. Man verzichtet auf wirtschaftliche Stärke, ist sich aber nicht wirklich klar darüber, was weniger ökonomische Leistungsfähigkeit auf dem Boden der Wirklichkeit bedeutet – man verzichtet auf Wirtschaft, aber nicht auf die Hybris, auf den Machbarkeitswahn aus dem Zeitalter des scheinbar unbegrenzten Wirtschaftswachstums, das mit dem viel zitierten Marshall-Plan begann.

Die Erkenntnis über die Bedeutung des Zerfalls der industriellen Stärke, nämlich unter anderem auch die Beschränkung der Fähigkeit, anderen zu helfen, scheint weder in Deutschland noch im Rest der Welt schon wirklich angekommen zu sein. Aber sie wird ankommen. In der Ukraine zum Beispiel, wenn die Ukrainer merken, dass die vielen Hundert Milliarden Euros und Dollars, die ihnen aus Berlin, Brüssel und von sonstwo her versprochen und gezahlt werden, schon am Tag nach der Überweisung weniger wert sein werden als am Tag zuvor, weil sie auf Schuldenkonstruktionen beruhen, die nicht wirklich werthaltiges Geld herbeischaffen, sondern nur dessen Illusion. Man nennt diese Illusion auch Inflation.

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