2017, als Christian Lindner noch der neue Vorsitzende einer aus dem außerparlamentarischen Nichts wieder aufgestiegenen liberalen Partei war, hatte er Koalitionsverhandlungen zu einer sogenannten Jamaika-Koalition mit Union und Grünen platzen lassen. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren!“ waren seine Worte.
Wie will Lindner nun, da er Finanzminister in einer von den Grünen dominierten Koalition ist, weiter regieren, wenn diese sich gerade auf einem Parteitag dazu entschlossen haben, die deutsche Volkswirtschaft lieber in den energiemangelbedingten Abgrund laufen zu lassen, als von ihrem Anti-Atomkraft-Dogma abzuweichen? Grünen-Chefin Ricarda Lang spricht von einer „Roten Linie“. Aber was ist mit der „Roten Linie“ der FDP? Kann es für eine liberale, auf marktwirtschaftliche Vernunft achtende Partei eine eindeutigere „Rote Linie“ geben als die Gefährdung des Überlebens der Wirtschaft und damit des Wohlstands und der Grundlagen einer liberalen Gesellschaft?
Wenn Lindner und seine gesamte Partei in den vergangenen Ampel- und Krisenmonaten noch einen letzten Rest von Verantwortungsbewusstsein vor dem Land und Achtung vor sich selbst bewahrt haben, müssen sie jetzt die Koalition aufkündigen. Oder zumindest müssten sie den Kanzler vor die Wahl stellen: Entweder du nutzt endlich deine Richtlinienkompetenz gegen die Grünen und für die Atomkraft, oder wir sind weg. Dann würde der politische Druck dorthin verlagert wo er hingehört: ins Kanzleramt. Wenn Scholz das nicht tut, müsste die FDP konsequent sein. Scholz verlöre seine Kanzlermehrheit, müsste letztlich die Vertrauensfrage stellen und Neuwahlen ermöglichen.
Natürlich würde durch einen Koalitionsbruch zu allen Krisen auch noch eine Regierungskrise entstehen, aber keine handlungsfähige Regierung ist die bessere Alternative zu einer Regierung, die das Land an die Wand zu fahren droht. Ohnehin kann die gegenwärtige multiple Krise, die nicht nur eine Folge des verbrecherischen Krieges von Putin ist, sondern eine Krise aufgrund falscher politischer Entscheidungen, schon bald zu einer sozialen und gesellschaftlichen Krise werden, die nach Neuwahlen ruft. Es wären Wahlen, in denen die Bürger dann letztlich die Atomkraftfrage zu beantworten hätten – wenn sich die FDP denn traut.
Mut gehört allerdings leider nicht zu den bestimmenden Charaktereigenschaften Lindners. Als er bei seinem Washington-Besuch auf die Möglichkeit des „Scheiterns“ der Koalition angesprochen wurde, bleib er windelweich: „Ich erwarte von allen Beteiligten, dass sie keine Roten Linien zeichnen, sondern Horizont erweitern.“
Der Ruf nach dem Ende der Koalition kommt immerhin auch schon aus der FDP selbst. Auch wenn es bislang ein einsamer Rufer wie der frühere Bundestagskandidat Holger Franke ist.
Ein anderer früherer FDP-Spitzenpolitiker, der ehemalige NRW-Landtagsfraktionschef Gerhard Papke hat schon vor einigen Tagen gewarnt: „Wenn die FDP so weitermacht, wird sie untergehen“.
Für Parteimitglieder, zumindest die Berufspolitiker unter ihnen, könnte das vielleicht das überzeugendste Argument sein, endlich die Reißleine zu ziehen. Aber es geht um viel mehr als das Überleben einer kleinen Partei, die ihre eigene Existenzberechtigung zu vergessen droht.
Wenn Lindner und die anderen FDP-Minister jene Nacht des 19. November 2017, als sie lieber nicht als schlecht zu regieren entschieden, schon vergessen haben, so erinnern sie sich vielleicht noch an ihren Amtseid, den sie am 8. Dezember 2021 im Bundestag ablegten: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“
Es geht jetzt wirklich um das Wohl des deutschen Volkes. Dafür tragen Lindner und die anderen Minister höchste Verantwortung.