Mit dem Vorwurf der „Realitätsverweigerung“, wie er jetzt von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann gegen Bundesinnenministerin Nancy Faeser kommt, wird ihre jüngste Äußerung sogar fast noch verharmlost. Wer die Wirklichkeit verweigert, weiß wenigstens noch, dass es grundsätzlich eine Wirklichkeit gibt, sieht aber womöglich eine andere. Faeser aber tut so, als ob die Wirklichkeit nicht existiere oder belanglos für die Politik sei. Indem sie nämlich ihre Ablehnung einer Höchstgrenze für den Zuzug jener Migranten, die in den meisten Medien nun „Geflüchtete“ oder „Schutzsuchende“ genannt werden, mit der Feststellung begründet, es gebe „keine Höchstgrenzen für Menschlichkeit“.
Erstaunlicherweise zeigte sich Faeser im selben Interview auch höchst verschlossen gegenüber den Forderungen der Kommunen nach mehr Geld vom Bund für die Versorgung von Zuwanderern. Da schien dann doch so etwas wie eine Ahnung von der Begrenztheit der Mittel durchzuscheinen. Den offenkundig notwendigen Schluss von der Knappheit der Mittel zur Notwendigkeit der Begrenzung der Ausgaben verweigert sie – und offenbart dadurch nicht weniger als ihre politische Irrationalität.
Faesers verqueres Menschlichkeitsargument ist durch ein einfaches Gedankenexperiment widerlegbar: Was wäre, wenn nicht Hunderttausende, sondern mehrere Millionen Menschen jährlich in Deutschland nach „Schutz“ suchten, also de facto Unterkunft und Versorgung verlangten? Die Antwort ist offensichtlich: Selbstverständlich sind auch die Möglichkeiten des deutschen Sozialstaates begrenzt, selbst wenn man die Steuer- und Abgabenzahler noch so sehr zur Kasse bäte.
Die Tragik der deutschen Einwanderungs- und Sozialpolitik ist, dass nicht nur einige gesinnungsethisch überdrehte NGOs die totale Entgrenzung („No Borders, No Nations“) fordern, sondern eben auch eine regierende Ministerin offenkundig jedes Maß verloren hat. Dazu kommt noch eine bis in höchste Gerichte durchgedrungene Auslegung der Menschenrechte als Recht auf Fürsorge nach gegenwärtigen Standards des deutschen Sozialstaats. Das banale Basiswissen, dass eine Solidargemeinschaft, auch wenn sie vom Staat organisiert wird, die Zahl der potentiellen Empfänger von Solidaritätsleistungen begrenzen muss, löst sich offenkundig in moralisierenden Parolen auf.
Wer wie Faeser jeden Versuch der Begrenzung der Armutszuwanderung als unmoralisch abkanzelt, offenbart damit nicht etwa seine Menschlichkeit. Denn die beweist sich immer nur durch das ganz persönliche Opfer oder Risiko, das man auf sich nimmt. Wer spricht und handelt (beziehungsweise Handeln unterbindet) wie Faeser, beweist vielmehr seine Unfähigkeit zur politischen Verantwortung. Und zwar im Wortsinne, denn es geht mit der Verweigerung einer Antwort auf die Frage einher, was die Folgen solcher Maßlosigkeit sein werden.
Wer allein schon die Möglichkeit verneint, eine Höchstgrenze für die Zuwanderung von Versorgungsempfängern festzulegen, riskiert nichts anderes als das Austesten der tatsächlichen, absoluten Belastbarkeitsgrenzen – wo die genau liegen, weiß noch niemand genau, aber dass es sie gibt, ist für jeden rational denkenden Menschen unbestreitbar. Wer derart die politische Vernunft zugunsten moralisierender Hybris aufgibt, riskiert in letzter Konsequenz nicht weniger als den Kollaps unseres Sozialstaats.