Die Eurokrise war nie vorbei. Wie alle großen Krisen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart wurde sie nicht gelöst und bereinigt, sondern in eine scheinbar ferne Zukunft verschoben. Doch diese bricht jetzt an – wie die offenkundige Unruhe an den Anleihemärkten und unter Notenbankern zeigt.
Der geldpolitische Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) kam heute zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen und beschloss – um es vorwegzunehmen – wenig Konkretes. Sie hat – wie zu erwarten – erneut ihre Bereitschaft bekräftigt, für den Zusammenhalt der Eurozone zu sorgen. In einem Statement nach der Sitzung hieß es nur, der Rat habe die „relevanten Gremien“ beauftragt, „beschleunigt“ ein Konzept für ein neues „Instrument“ zu erarbeiten, mit dem eine „Fragmentierung“ der Währungszone verhindert werden könne („the design of a new anti-fragmentation instrument“). Und man bekräftigte, Anleihekäufe unter dem Notfallprogramm PEPP könnten „flexibel“ eingesetzt werden. Unter PEPP (in der Corona-Pandemie geschaffen) werden zwar netto keine Schuldpapiere mehr dazugekauft, aber auslaufende werden bis auf Weiteres ersetzt. Unter „flexibel“ ist wohl zu verstehen, dass beispielsweise fällig werdende deutsche Bundesanleihen durch italienische Staatsanleihen ersetzt werden.
Die angekündigte Anhebung der Zinsen, das Ende des billigen Geldes, ist die – verspätete – Reaktion auf die überall in der Eurozone galoppierende Geldentwertung, die endlich auch der EZB Sorgen bereitet, nachdem sie bis vor kurzem verharmlost wurde.
Zusammenfassend: Die (absehbare) Wiederkehr der Staatsschuldenkrise ist diesmal von der Inflation ausgelöst worden – aber diese ist kein externer Schicksalsschlag, sondern selbst eine Folge der Nullzins-Geldschwemme-Politik der EZB im Verein mit der fortgesetzten Verschuldungsfreude der EU-Mitgliedsstaaten (und seit kurzem auch der EU selbst). Die EZB medikamentiert also an Symptomen herum, die sie selbst mitverschuldet hat.
In den fast täglichen neuen Schreckensmeldungen des Statistischen Bundesamtes über die Verteuerung fehlt seit dem 24. Februar fast nie ein Satz zum Ukraine-Krieg, zum Beispiel hier: „Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine hat sich der bereits zuvor beobachtete Anstieg der Preise für Energie merklich verstärkt und beeinflusst die Inflationsrate erheblich.“ Oft fehlt in solchen Erklärungen allerdings auch der Einschub „bereits zuvor beobachtete“.
Natürlich haben Politiker ein Interesse daran, die jetzige Inflation als Folge des Ukraine-Krieges, jedenfalls nicht als Folge ihrer eigenen Politik darzustellen. Ihnen muss man das Diktum von Ludwig Erhard entgegenhalten: „Die Inflation kommt nicht über uns als ein Fluch oder als ein tragisches Geschick; sie wird immer durch eine leichtfertige oder sogar verbrecherische Politik hervorgerufen.“ Inflation ist das Ergebnis von falscher Geldpolitik im Zusammenwirken mit verantwortungsloser Staatsschuldenpolitik.
Die Bilanzsumme der Schweizer Nationalbank hat sich seit 2019 um moderate 20 Prozent vergrößert. Die der EZB explodierte im gleichen Zeitraum um fast 90 Prozent, von 4,7 auf 8,8 Billionen Euro. In der Eurozone sind also gigantische Geldmengen aus dem Nichts geschaffen worden, die den Zuwachs der Güter und Dienstleistungen bei Weitem übertreffen. Man muss kein Finanzwissenschaftler sein (vielleicht sollte man es sogar gerade nicht sein), um zu begreifen, dass es unter solcher Voraussetzung früher oder später zu einer Entwertung des Geldes kommen muss.
Das einzige, was die EZB unter Christine Lagarde gegen die offenkundige Inflationsgefahr tat, war die Aussendung von Beschwichtigungsbotschaften mit Unterstützung einer ihr weitgehend hörigen Mehrheit in Ökonomik und Journalismus. Die Warner mit dem ehemaligen Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann an der Spitze hatten keine Chance. Weidmann trat Ende 2021 zurück. Nun gibt ihm die Entwicklung recht.
Da ist sie also wieder: die Staatsschuldenkrise. Eigentlich war sie nie wirklich weg. Und die EZB sucht nicht wirklich nach einer Lösung, die reinen Tisch macht, sondern nach einem neuen „Instrument“, um sie wieder ein Stück weiter in die Zukunft zu schieben. Das meint man im EZB-Rat mit der Verhinderung der „Fragmentierung“ („resurgent fragmentation risks“), was nur ein Euphemismus für den Bankrott überschuldeter Staaten und das Auseinanderbrechen der Währungsunion ist.
Fazit: Nicht die Verhinderung der Inflation – klassische primäre Aufgabe einer Zentralbank und laut Verträgen auch der EZB – beschäftigt die EZB (das Wort kommt in dem kurzen Statement gar nicht vor), sondern die Verhinderung des Zerfalls der Währungsunion. Oder um es mit einfachen nicht-notenbankerischen Worten zu sagen: die Fortsetzung des Nichteingestehens des Scheiterns der Währungsunion. Die Inflation ist der Preis dafür.