Rainer Brüderle stellte neulich in einem sonst nicht weiter beachtenswerten Interview im Cicero fest: „Wenn wir 2015 wiederholen, gefährden wir unsere politischen Strukturen erheblich“.
Das ist eigentlich eine Plattitüde. Auch der Kanzlerin und ihren Vasallen in der CDU, ja, vermutlich sogar manchen Sozialdemokraten, Grünen und Linke-Politikern ist diese Gefahr durchaus klar. Anderen wiederum, nicht nur den Carola Racketes und Pia Klemps in den NGOs, ist diese Gefahr vielleicht sogar eine „antifaschistische“ Glücksverheißung.
Um letztere soll es hier nicht gehen, sondern um die, die dieses Land regieren und zumindest vorgeben, seine politischen Strukturen bewahren zu wollen.
Unter all jenen, die sich auf die einfache Feststellung Brüderles einigen können, müsste eigentlich – sollte man meinen – also auch klar sein, dass man in der gegenwärtigen Migrationslage nicht wieder nach denselben Richtlinien wie 2015 handeln darf. Aber das ist nicht der Fall. Die gesamte politische Klasse Deutschlands offenbart gerade ein beängstigendes Ausmaß an Unwillen, aus den eigenen Fehlern der Vergangenheit klüger zu werden.
Brüderle zeigt diesen Unwillen übrigens selbst auch in dem Interview – obwohl er weder damals noch jetzt politisch verantwortlich war und ist. Auch Brüderle folgert nämlich, dass man eben diesmal unbedingt einen Alleingang vermeiden und Mitstreiter in der EU gewinnen müsse. Da ist er also ganz auf der Linie der Bundesregierung.
Es gibt nicht den geringsten Grund dafür, zu glauben, dass sich das auf absehbare Zeit ändern könnte.
Man fantasiert in Berlin von der Notwendigkeit einer „europäischen Lösung“, will sich darunter aber nichts anderes vorstellen, als dass die anderen dem deutschen Sonderweg folgen. Die EU-Bürokratie in Brüssel und auch weite Teile der politischen Öffentlichkeit in den anderen Ländern der EU stehen zwar auf Merkel-Deutschlands Seite. Aber in den nationalen Regierungen überwiegen die Pragmatiker der nationalen Interessen.
Es könnte also längst eine europäische Lösung geben. Nur ist die natürlich nicht nach dem Geschmack der Merkel-Union und ihrer gegenwärtigen roten und künftigen grünen Mitregierenden. Diese Lösung ist eben die Umsetzung der Lehren von 2015: Keine Anreize für illegale Migration setzen, keine De-Facto-Automatismen zulassen, die jedem, der sich in ein unsicheres Schlauchboot eines skrupellosen Schleppers setzt, die so gut wie sichere Aufnahme in europäischen Sozialsystemen verheißen. Also gerade nicht diejenigen belohnen, die sich selbst und andere Einwanderungswillige als humanitäre Geiseln einzusetzen versuchen, indem sie die eigenen Zelte verbrennen.
Außerhalb Deutschlands und jenseits der EU-Eliten in Brüssel ist das in den meisten, fast allen EU-Staaten mittlerweile die politische Mehrheitsmeinung und Regierungspolitik. Wenn es eine europäische Asyl- und Migrationspolitik geben soll, dann muss sich die deutsch-Brüsseler Minderheitenposition der Mehrheit anpassen – nicht umgekehrt.
Deutsche Politik benimmt sich hier wie der berühmte Autofahrer, der lauter Geisterfahrer sieht und nicht merken will, dass er selbst der Geisterfahrer ist.
In allen europäischen Zivilgesellschaften gibt es eine starke öffentliche Tendenz der Kombination von humanitärem Imperativ und postnationaler Offenheit. Aber in keinem anderen Land hat sich die politische Führung dieser Gesinnung derart radikal selbst ausgeliefert wie in Merkels Deutschland seit 2015.
Die Reibungen dieser Politik mit der Wirklichkeit sind offenkundig. Das Erstarken der AfD ist nur eines von vielen Symptomen. Ein wachsender Teil der deutschen Gesellschaft fühlt sich seither wie das Gretchen am Spinnrad:
Meine Ruh ist hin, / Mein Herz ist schwer, / Ich finde sie nimmer /Und nimmermehr.
Merkel und mit ihr alle, die 2015 Verantwortung trugen in der Politik ebenso wie im vorpolitischen Raum der Medien, befinden sich seither in der Lage, eine Absurdität zur Leitlinie ihres Sprechens und Handelns zu machen.
Der Zweck dieses Sprechens und Handeln ist also nicht in der Sache selbst zu finden. Es geht weniger um die Bewältigung der Lage. In Deutschland erschöpft sich der diesbezügliche öffentliche Disput in einem Wettstreit von realer oder gespielter politischer Naivität, wie er gerade in der Frage der Moria-Brandstiftung zutage trat, die zu durchbrechen eine hysterische Hypermoral verhindert. Nicht realpolitische Lösungen, sondern moralische Legitimität und gute Gefühle sind das Ziel. Es geht nicht ums Land, sondern darum, die Rechtfertigung der Macht nicht zu verlieren.
Das Ergebnis ist, dass die Verantwortlichen grundlegende Irrtümer nicht eingestehen und fatale Fehler nicht korrigieren – selbst wenn sie offenkundig und unübersehbar sind. Nach Irrtümern und Fehlern solcher Dimension sind in einer funktionierenden Demokratie eigentlich umfassende Erneuerungsprozesse, nicht zuletzt personelle fällig. Aber es haben ja fast alle mitgemacht bei den Irrtümern und Fehlern. Es gab dank der von Merkel orchestrierten programmatischen Selbstaufgabe der Union keine Opposition, die das Ruder hätte herumreißen können.
Und da steht Deutschland also seither: Eine Kanzlerin an der Spitze einer politischen Klasse und die Mehrheit der Gesellschaft sind gefangen im Unwillen, vielleicht auch in der tiefen Angst, ihren Irrtum einzugestehen, ihren Fehler zu korrigieren. Also will man nichts davon wissen, macht die Augen zu, redet sich ein, dass es kein Fehler, sondern eine „herausragende Leistung“ war und man sich von seiner „besten Seite“ gezeigt habe. Und da müssen sich doch, so redet man sich ein, all diese moralischen Geisterfahrer, die den Deutschen in Europa entgegenkommen, gefälligst zum U-Turn bewegen lassen.