Es ist schon längst eine Art Running Gag der EU-Politik. Ausgerechnet aus Deutschland erschallt wieder der Vorwurf des nationalen Alleingangs in der europäischen Migrationspolitik – pünktlich zum Sondertreffen der EU-Innenminiser an diesem Freitag in Brüssel. Diesmal ist es der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Stephan Thomae, der nationale Alleingänge kritisiert und Konsequenzen fordert. „Es ist entscheidend, dass die EU jetzt gemeinsam an einem Strang zieht“, sagte Thomae dem Handelsblatt. Das gelte auch für die Bekämpfung illegaler Migration. Das Sondertreffen müsse „dazu genutzt werden, um Österreich, Serbien und Ungarn deutlich zu machen, dass ein Alleingang in der Migrationspolitik nicht akzeptabel ist“. Denn nur mit einer gemeinsamen, europäisch getragenen Lösung könne Migration auf Dauer bewältigt werden.
Man muss sich klarmachen, woran dieses Scheitern liegt. Nämlich am fortgesetzten Alleingang Deutschland – unter Merkel und auch jetzt unter der Ampel. Die sogenannte Flüchtlingskrise war keine europäische, sondern in erster Linie eine deutsche Krise. Und sie war nie wirklich vorbei und ist jetzt in ähnlichem Ausmaße wieder da. Ihre Gründe waren damals ebenso wie heute stets die besondere Attraktivität Deutschlands und einiger anderer Staaten für Asylzuwanderer, kombiniert mit einem offen unter beweis gestellten Unwillen, die Grenzen Deutschlands oder die Außengrenzen der EU zu sperren, also Zuwanderungswillige zurückzuweisen. Wo immer das dann dennoch geschah und geschieht, ob an Polens oder Griechenlands Außengrenzen oder an den Mittelmeerküsten, konnten sich die dortigen Grenzschützer und die EU-Behörde Frontex vor allem auf eines verlassen: dass ihnen die deutsche Regierung, NGOs und vor allem deutsche Leitmedien wie der Spiegel in den Rücken fallen. Der Spiegel schreckt dabei, wie jetzt ein neuer Skandal deutlich macht, auch vor falschen Meldungen nicht zurück.
Als im Frühjahr 2016 die Balkan-Staaten die dortige Route einigermaßen schlossen, wurden ihnen aus Berlin schon damals ähnliche Vorhaltungen gemacht wie jetzt wieder. Dabei retteten diese die deutsche Willkommenspolitik vor dem unmittelbaren Kollaps, der auch jetzt wieder droht. „Die Landkreise stoßen insbesondere im Hinblick auf ihre Unterbringungskapazitäten an Grenzen“, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistags, Reinhard Sager, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Auch 2015/16 sprach die Bundesregierung unter Merkel stets von „europäischen“ Lösungen, während sie selbst gerade die geltende Dublin-Regelung außer Kraft gesetzt hatte, indem sie Hunderttausende „Flüchtlinge“ aufnahm, die aus anderen EU-Ländern, also als Sekundärmigranten kamen. Auch das setzt die Ampel-Regierung fort, indem sie Hunderttausendfach Asylanträge von Menschen annimmt, die schon in anderen EU-Staaten registriert wurden.
Die deutsche Migrationspolitik steht auch unter der Ampel und zu diesem inneren Widerspruch (mit Beteiligung der FDP, die Merkels Politik 2015/16 immerhin halbherzig kritisiert hatte): Man fordert die „europäische Lösung“, verhindert diese aber beharrlich, indem man das eigene Land für Asyl- also de facto Armutsmigranten attraktiver macht als andere, und zugleich jede Initiative für einen robusten Außengrenzenschutz unterminiert. Getrieben wird diese Politik von einem dank immer üppigerer Steuergeldalimentierung wachsenden Vorfeld an Migrationshilfe-NGOs, die sich zudem immer deutlicher mit Klimaschutz-NGOs verbinden, und nicht zuletzt auch von der Mehrheit der Medien. Letztere sehen ihre Aufgabe oft nicht in der kritischen Berichterstattung über die Einwanderungswirklichkeit, sondern darin, im Sinne einer höchsten abstrakten Moral der grenzenlosen Offenheit und Versorgungsbereitschaft jegliche konkrete Abweichung davon zu maßregeln. Das treibt dann auch mal Blüten wie den jüngsten Spiegel-Skandal.
Unter „europäische Lösung“ versteht man in Berlin spätestens seit 2015 generell ein Einschwenken der anderen EU-Staaten auf die extrem großzügige Haltung Deutschlands. Der Ruf danach ist nichts anderes als ein andauernder moralisierender Vorwurf gegen die Mehrheit der weniger einwanderungseuphorischen Nachbarländer. Wenn Faeser und den anderen Migrationspolitikern der Ampel tatsächlich an einer europäischen Lösung gelegen wäre, müssten sie endlich die deutsche Aufnahme- und Versorgungspraxis auf ein höchstens durchschnittliches EU-Niveau absenken. Das Bürgergeld, Faesers Pläne zur erleichterten Einbürgerung und die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeigen, dass die Bundesregierung und andere tonangebende Institutionen in Deutschland das Gegenteil vorhaben.
Eine wirkliche europäische Einwanderungspolitik, die über Regeln hinausgeht, an die sich weder Migranten noch Behörden halten, gäbe es erst, wenn alle EU-Staaten dasselbe Ziel verfolgten und eine für Armutsmigranten halbwegs gleiche Versorgung, also Attraktivität, herstellten. Da Deutschland unter Migrationspolitik in der Praxis das Gegenteil dessen versteht, was die meisten anderen potentiellen Zielländer wünschen, nämlich lieber mehr statt weniger Migranten anzuziehen, ist eine wirklich gemeinsame Migrationspolitik weitgehend unrealistisch. Zwischen der Bundesregierung und Girogia Melonis Italien, geschweige denn Ungarn und den osteuropäischen Mitgliedsländern gibt es keine Basis gemeinsamer Ziele und Interessen. Auch Frankreich steht in Migrationsfragen nicht wirklich auf Deutschlands Seite. Denn im Gegensatz zur deutschen AfD ist Frankreichs Rechte unter Marine Le Pen eine reale Bedrohung für die Pariser Regierenden, auf deren Forderungen Macron und sein Innenminister Gerald Darmanin Rücksicht nehmen müssen.