Wer moralisch fragwürdige Entscheidungen zu treffen hat, trägt eine schwere Verantwortung. Das ist die Bürde der Macht. Auf der Suche nach Entlastung von dieser Bürde hat die deutsche Politik mit dem Deutschen Ethikrat (sein Vorgänger war 2001 bis 2008 der „Nationale Ethikrat“) ein praktikables Werkzeug gefunden.
Seine Funktion für die höchste Politik in Deutschland gleicht derjenigen von Unternehmensberatungen zum Beispiel bei Entlassungsrunden: Der Vorstand kann sich hinter ihrer Expertise verstecken, wenn der Belegschaft der nächste Personalabbau-Plan präsentiert werden muss. Und so wie ein Unternehmensvorstand selbst die Berater auswählt, ist auch der Ethikrat tatsächlich wohl nicht so unabhängig wie im Ethikratgesetz behauptet, denn seine Mitglieder werden je zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Bundestag vorgeschlagen. Und da die Bundestagsmehrheit bekanntlich die Regierung stützt, ist auch diese Aufteilung längst kein Garant für Neutralität.
Und so war es denn auch keine große Überraschung, dass der Ethikrat mit der Mehrheit seiner Mitglieder entschieden hat, dass eine allgemeine Corona-Impfpflicht moralisch gerechtfertigt sei. Allerdings müsse die Durchsetzung dieser Pflicht „unter Anwendung körperlicher Gewalt“ ausgeschlossen bleiben, und: „Die politischen Akteure und staatlichen Instanzen sollten bei der Umsetzung der Impfpflicht bewusst darauf hinwirken, Frontstellungen zwischen geimpften und nicht geimpften Menschen zu vermeiden.“
Die drei Juristen Frauke Rostalski, Stephan Rixen und Steffen Augsberg sowie die Juniorprofessorin für islamische Theologie, Muna Tatari, fordern nicht nur, „die Unsicherheiten stärker zu betonen“, und kritisieren, „dass die aktuelle öffentliche Debatte in einem Tunnelblick verfangen ist, der eine weitreichende („allgemeine“) Impfpflicht als alternativ- und problemlos erscheinen lässt“.
Da haben offensichtlich vier Mitglieder des Ethikrates die Vorgabe der Unabhängigkeit und die Kriterien der ethischen Erörterung wirklich ernst genommen und auf die eigene Institution angewendet, also in ihrer Funktion als Mitglieder einer Institution diese Institution selbst und ihre Schöpfer kritisiert. Das ist – auch ganz unabhängig vom konkreten Thema Impfpflicht – vorbildlich im Sinne wissenschaftlicher Freiheit zur Kritik. Die darf nicht vor der eigenen Institution und erst recht nicht vor mächtigen Auftraggebern einknicken.