Tichys Einblick
EU-Gipfel in Zeiten des Ukraine-Krieges

Emmanuel Macron als Profiteur des Krieges: Sein Wunsch wird Wirklichkeit werden

Während der Krieg in der Ukraine laut Präsident Selenskyj einen „Wendepunkt“ erreicht, wird gerade beim EU-Gipfel in Versailles deutlich, dass einer jedenfalls profitiert: Frankreichs Präsident Macron wird seine Vorstellung von europäischer „Souveränität“ durchsetzen – und das vor den Präsidentschaftswahlen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron empfängt Bundeskanzler Olaf Scholz zum EU-Gipfel in Versailles, 10. März 2022.

IMAGO / Belga

Wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauert, bleibt offen. Aber sein Ende wird immerhin allmählich absehbar – und auch schon, wer jenseits der Ukraine und Russlands zu den Profiteuren gehört.

An diesem Freitag sind erste Indizien dafür erkennbar, dass der Krieg womöglich einen Scheitelpunkt erreicht hat, ab dem es um die Suche nach seinem Ende geht. Während auf den Schlachtfeldern relativ wenig Bewegung zu vermelden ist (was das Leid für die Soldaten und Zivilisten vor Ort keineswegs verringern muss), äußerten sich einen Tag nach den abgebrochenen Verhandlungen der Außenminister in der Türkei nun sowohl der russische Machthaber Wladimir Putin als auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj öffentlich. Putin sprach beim Treffen mit seinem Vasallen Alexander Lukaschenko von „bestimmten positiven Veränderungen“ in den Verhandlungen mit der Ukraine. Er würde das nicht bekanntmachen, wenn er nicht erneut signalisieren wollte, dass er grundsätzlich bereit ist, seine Soldaten zurückzupfeifen, ohne dass ihm vorher die gesamte Ukraine in die Hände fällt. Vermutlich ist die Botschaft aber vor allem für die eigenen Bürger gedacht, die zunehmend unter den Sanktionen leiden und um ihre jungen Männer fürchten. Ein endloser, zunehmend unpopulärer Krieg liegt nicht in Putins Interesse.

Schuldenunion
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jedenfalls sprach im Fernsehen zu seinen Landsleuten von einem „strategischen Wendepunkt“ auf dem Weg zum Verteidigungssieg. Klar, Selenskyj ist Schauspieler und ein begnadeter Motivator seiner Soldaten und Bürger. Dennoch: Immer mehr militärische Beobachter bestätigen seine Sicht der Lage. Der russische Plan, mit begrenzten militärischen Mitteln zum völligen Sieg über die Ukraine zu kommen, ist am entschlossenen Widerstand der Ukrainer gescheitert. Und mehr Mittel zu mobilisieren, also weiter die Gewalt zu eskalieren, scheint sich Putins Regime selbst nicht zuzutrauen. Die Ukraine wird also ohne Unterwerfung unter den Kreml als souveränes Land fortbestehen – fraglich ist allerdings in welchem territorialen Umfang und welchem Bündnisstatus.

Wie auch immer der Krieg weitergeht: Beim EU-Gipfel in Versailles nutzt Gastgeber Emmanuel Macron die Lage in Osteuropa konsequent aus, um die EU in einer Weise zu verändern, die schon lange seinen Wunschvorstellungen entspricht. Das neue Sanktionspaket gegen Russland steht für den französischen Strategen sicher ebenso wenig im Zentrum seiner Aufmerksamkeit wie die Frage des Blitz-Beitritts der Ukraine. Der „europäische Weg“ der Ukraine wird lang sein. Und er wird die ohnehin schon überdehnte EU vor unlösbare Probleme stellen. Aber daran will Macron jetzt sicher nicht denken. Ebenso wenig wie an die Absurdität, dass das offen russlandfreundliche Serbien ebenfalls EU-Mitglied werden soll.

Für ihn ist wichtiger, dass seine Vorstellung von europäischer „Souveränität“ bestätigt wird. Darunter versteht er – im Bündnis mit Italiens Premierminister Mario Draghi – vor allem die Festlegung auf eine Schuldenunion. Die letzten Reste des deutschen Widerstands gegen diese de facto Abschaffung der Grundlagen der Währungsunion lösen sich nun wohl gerade in Versailles in Luft auf. Um ein Energieembargo der EU gegen Russland zumindest für die kommenden Jahre abzuwenden, das der deutschen Industrie im Wortsinne den Saft abdrehen würde, muss Scholz an anderen Stellen Macrons Wünschen nachgeben. Die formuliert der Franzose in Versailles so: „Wir werden eine gemeinsame europäische Investitionsstrategie brauchen. Das haben wir mit dem Wiederaufbauplan vom Sommer 2020 begonnen. Das ist teilweise auch weiter anwendbar. Aber mit Zielen, die wir definieren werden, muss man sehen, ob es weitere Entscheidungen braucht.“ 

In weniger diplomatischen Worten: Der Wiederaufbaufonds mit gemeinsamen EU-Schulden soll keine Corona-Ausnahme bleiben, sondern zum Standard für weitere „Ziele“ werden, ob Verteidigung oder Energie oder was auch immer findigen Köpfen in Paris, Rom oder Brüssel einfällt. Der Niederländer Mark Rutte wehrt sich noch, aber die wichtigste Stimme gegen die Schuldenunion, Deutschland, wird stumm bleiben. Macron und Draghi werden also mit dem Mittel der gemeinsamen Schuldenaufnahme der Währungsunion den letzten Rest der alten D-Mark austreiben. Zugunsten ihrer Staatshaushalte und Volkswirtschaften – zu Ungunsten der deutschen und anderer früherer Hartwährungsökonomien.

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