Tichys Einblick
"Methode des Guten"

„Die Zeit“ erklärt Merkel zum guten Menschen

"Intrige, Demütigung und Rache" – da habe Merkel nicht mitgemacht, schreibt allen Ernstes der stellvertretende Chefredakteur der "Zeit". Es ist nicht die erste Liebeserklärung von Bernd Ulrich an die Bundeskanzlerin.

GettyImages | Screenprint: Die Zeit

Liebe macht blind. Nur durch diese Volksweisheit ist zu erklären, wie Bernd Ulrich der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit und Co-Autor von Luisa Neubauer („Noch haben wir die Wahl“) zu einer solchen Aussage kommt: „Politik gilt als ein Spiel von Intrige, Demütigung und Rache. Angela Merkel hat dabei nicht mitgemacht – und war gerade deshalb erfolgreich.“

Wenn Friedrich Merz oder Roland Koch und viele andere von Merkel abservierte Parteifreunde diese Zeilen lesen, werden sie sich im falschen Film wähnen.

„Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?“ lautet die Überschrift des Artikels von Ulrich. Dazu das Bild einer mindestens um 20 Jahre verjüngten Merkel, im Flugzeug verklärt und milde aus dem Fenster schauend. Im Text selbst wird es dann noch bizarrer, als der Schauspieler Ulrich Matthes, mit dem sich Bernd Ulrich im Café Einstein traf (ein Recherchegespräch mit einem Schauspieler über eine Spitzenpolitikerin!), den Satz sagt: „»Ich möchte damit bitte nicht zitiert werden, mit so einer Formulierung macht man sich ja komplett lächerlich, zumal in Berlin, aber das Entscheidende ist doch: Merkel ist ein guter Mensch.« (Später wird Ulrich Matthes das Zitat dann doch freigeben.)“

Bernd Ulrich macht im gesamten Text deutlich, dass er derselben Ansicht ist, allenfalls leicht relativiert: „Angela Merkel ist natürlich nicht nur gut, sondern allenfalls mehr gut als böse und gewiss öfter gut als andere in diesen Machthöhen.“ Und ganz am Schluss wird Ulrich sogar esoterisch: Merkel habe mit ihrer „Methode des Guten einfach nicht so viel dunkle Energie angereichert“ (wie ihre Vorgänger Schröder und Kohl)

Dem Autor dieser Worte wird weder die Schamesröte ins Gesicht geschossen sein, noch müssen ihm beim Schreiben solchen Unsinns die Hände gezittert haben, wie jemand auf Twitter vermutet.

Auch wird Ulrich keineswegs die Jahre seit 1999 verschlafen haben, um solche für jeden kritischen Beobachter schlicht abwegigen Behauptungen über Merkel aufstellen zu können. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Artikel über Merkel geschrieben, die von ähnlicher Verehrung geprägt sind. Er verbreitete etwa 2017 die Legende, Merkel sei nur noch einmal zur Bundestagswahl angetreten, weil „es noch nicht ging, zu viel Le Pen, zu viel Trump und Brexit stand vor den Toren, als dass sie als letzte stabile Führerin des Westens hätte gehen können“.

Im Sommer 2018 dichtete Ulrich, ihre Amtszeit gehe zu Ende, zumindest „metaphysisch, emotional“ (wenn es um Merkel geht, wird er meist wolkig und gefühlig) und deswegen empfahl er, wir sollten schon einmal anfangen, „uns nach ihr zurückzusehnen“. Den Abgang „dieser starken Frau, dieser unvergleichlichen Politikerin und großen Kanzlerin“ bedauerte er unumwunden, denn: „Es gibt keine liberale Alternative zur Methode Merkel.“

— wolfgang merkel (@merkel_wolfgang) August 28, 2021

In seiner Bernd-Ulrich-Welt hat der (laut Wikipedia) frühere Autor der anarchopazifistischen Zeitschrift Graswurzelrevolution und Büroleiter beim Fraktionsvorstand der Grünen im Deutschen Bundestag natürlich recht: Merkel hat als Kanzlerin schließlich alles getan, was „bei uns nicht ganz so großen Politikjournalisten der Gegenwart“ (O-Ton Ulrich über seinen Berufsstand im Vergleich zu Shakespeare) für „gut“ gilt.

Und gegen Merz zum Beispiel habe sie ja auch gar nicht intrigiert. Ulrich über Merkels Handeln nach der Wahl von 2002: „… sie scheint auch gar nichts gegen Friedrich Merz zu haben, er kann halt nur nicht da bleiben, wo er ist.“ Deswegen sei „die Redeweise von der männermordenden Merkel“ nur „in den Köpfen von Männern“ entstanden, „die nicht selbst schuld sein wollten“.

Dann stehen da wirklich noch diese Sätze über 2015: „Es war die historische Situation, die sie zum Gutsein zwang. Mehr als die Lektüre der Bergpredigt trieb sie wohl das akute Drama. Doch immerhin: Merkel war für den Zwang zum Guten empfänglich.“ Oder, über Merkel und ihre Büroleiterin Beate Baumann: „All das Gift hat die beiden nicht giftig gemacht.“

Jetzt wollen wir es aber auch gut sein lassen. Zumindest was die Güte der Kanzlerin angeht.

Aber da ist noch ein Nebensatz, den Ulrich in Klammern setzt, der zwar ausnahmsweise kein Lob der Kanzlerin beinhaltet, aber zeigt, wie es um das Berufsverständnis des stellvertretenden Chefredakteurs der größten deutschen Wochenzeitung bestellt ist: Ein „Journalismus, der auf das Freilegen böser Motive und Machenschaften zielt“,sei „für die Gefahren des 21. Jahrhunderts ungefähr so geeignet ist wie die Wasserpistole für den Waldbrand“.

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