In der CDU im Städtchen Weinheim in der Kurpfalz ist passiert, was in Parteien anderer Demokratien unter vergleichbaren Voraussetzungen auch auf nationaler Ebene bisweilen passiert: Der dortige CDU-Stadtverband hat sich im Februar gespalten. Von außen betrachtet, könnte man meinen, es gehe hier um eine rein geographische Frage, denn fünf CDU-Ortsverbände aus Ortsteilen haben den Verband der „Kernstadt“ allein gelassen und einen eigenen Stadtverband gegründet. Aber dahinter steht kein Zerwürfnis unter lokalen Rivalen, sondern ein grundsätzlicher Richtungsstreit.
Die Sezessionisten des neuen Verbands „Zweiburgen“ wollen, wie deren Vorsitzender Christian Lehmann im Lokalblatt Weinheimer Woche zitiert wird, ein CDU-Bild gleich dem der Bundes-CDU abgeben. Von „Politik für die Mitte“ ist da die Rede und anderswo von der „Mitte der Stadtgesellschaft“. Das erinnert wohl nicht zufällig an die seinerzeitige „Union der Mitte“, in der sich die 150-prozentigen Anhänger Angela Merkels gegenseitig und öffentlich ihre Treue zur damaligen Kanzlerin versicherten. Die Sezessionisten sind also grob vereinfachend „Merkelianer“. Die CDU in der Kernstadt Weinheim dagegen wird in einem anderen Lokalzeitungsartikel als „ultrakonservativ“ bezeichnet. Schlimmstes Vergehen: Im Sommer 2019 war dort Hans-Georg Maaßen einmal zu Gast. Und es kommt noch schlimmer: Der Ortsverbandschef Hans Peter Masuch hatte im Januar 2023 sogar daran erinnert.
Jenseits des Städtchens am Odenwald scheren diese Vorgänge im Detail natürlich niemanden. Aber dennoch ist die CDU-Sezession von Weinheim lehrreich. Man fragt sich doch, warum ein solcher Vorgang (in umgekehrter politischer Richtung) auf höherer, also Bundes-Ebene nie stattgefunden hat. Wäre, was die CDU-ler in Weinheim auseinandertreibt, nicht erst recht ein Trennungsgrund für CDU-Bundespolitiker? Hätte nicht in jenen Wochen und Monaten im Herbst 2015 ein erklecklicher Teil der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Merkel die Gefolgschaft aufkündigen können, da sie mit bisherigen Positionen der Union radikal gebrochen hatte?
Einen recht dilettantischen Versuch eines solchen Aufstands gab es im September 2015 tatsächlich. Ausführlich berichte ich darüber auf den Seiten 22 ff. in meinem Buch „Merkel am Ende“ auf Basis von Berichten des damaligen CDU-Abgeordneten Philipp Lengsfeld. „Es gab eine Initiative für einen Antrag an die Fraktion die Grenze zu schließen, also Zurückweisungen anzuordnen. … Daraus hätte eine parlamentarische Initiative werden können“, berichtet Lengsfeld. Doch diese Initiative sei „massiv torpediert worden“, vor allem durch „Durchstechereien“ an die Presse – also aus den eigenen Reihen. Am Ende siegte wohl die Feigheit vor der Konfrontation mit der Kanzlerin und der veröffentlichten Meinung. Überzeugungen zu haben, jedenfalls für sie zu kämpfen, ist eben unbequem und riskant, wenn sie gegen die Macht stehen. Bequemer ist es, den Vorgaben der Leitwölfe zu folgen. Auf lokalpolitischer Ebene, wo Politik finanziell nichts bis nur wenig einbringt, sind die Hemmungen womöglich geringer.
Im direkten Wettstreit beim Wähler hätte sich dann zeigen können, welcher Union die Zukunft gehört: der Merkel-Partei oder den Aufständischen. Bei den nächsten Bundestagswahlen wäre die Anti-Merkel-Partei AfD vermutlich in den Augen vieler ihrer potenziellen Wähler überflüssig gewesen. Eine neue Fraktion aus abtrünnigen Unionspolitikern wäre jedenfalls auch deutlich weniger anfällig für die Selbstradikalisierung gewesen – und eher koalitionsfähig.
Wer solche kontrafaktischen „Was-wäre-gewesen“-Gedanken für abwegig hält, muss sich nur klarmachen, dass in anderen demokratischen Ländern, zum Beispiel in Frankreich und Italien, immer wieder Parteien sich aufspalten oder auch fusionieren. Die letzte erfolgreiche Abspaltung einer großen deutschen Partei dagegen ist über hundert Jahre alt: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs trennte sich die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ von der SPD, aus ihre wurde auf Umwegen schließlich die Kommunistische Partei.
Dass neue Parteien aus alten entstehen, ist keine Verfallserscheinung, sondern eher ein Indiz für die Vitalität eines politischen Betriebes. Eigentlich wäre gerade die CDU dafür prädestiniert, die wie ihr Name schon sagt, in ihrem Ursprung eine Sammlung von verschiedenen Tendenzen war. Dass ausgerechnet diese Partei aber schon immer vom unbändigen Machtwillen der jeweiligen Spitzenfunktionäre zusammengeschweißt und zugleich in einem jahrzehntelangen Prozess der Negativauslese der eigenen Berufspolitiker inhaltlich entkernt wurde und ihre politische Vitalität einbüßte, ist eine Tragödie der bundesrepublikanischen Parteiengeschichte.