Tichys Einblick
Versagt und doch wiedergewählt

Die Berliner und der unverstandene Parlamentarismus

In Berlin muss die politische Anspruchslosigkeit wohl grenzenlos sein. Dabei haben die Berliner das Versagen der „bärenstarken Verwaltung“ (SPD-Wahlprogramm) nun sogar beim Wählen nochmal erlebt. Der Zweck von Wahlen scheint dabei in Vergessenheit geraten zu sein.

Wahlplakat der SPD in Berlin

IMAGO / Emmanuele Contini

Es war, als wollte die Berliner Verwaltung den Wählern noch einen letzten Hinweis über sich selbst geben: Seht, wie unfähig wir sind! Wir wollen das Weltklima retten – aber wir können keine Wahl vernünftig organisieren. Nicht genug Wahlzettel, weil ein Marathonlauf dazwischen kam! Ein Marathon, dessen Gleichzeitigkeit mit der Wahl (er findet alljährlich immer am letzten September-Sonntag statt) niemanden überraschen konnte.

Die Berliner, die gestern deswegen nicht wählen konnten oder deren nachträglich eingeworfene Wahlzettel womöglich eine Wiederholung der Wahl notwendig machen, haben also vielleicht noch ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken, was von dem Versprechen einer „bärenstarken Verwaltung“ der Berliner SPD zu halten ist, die nun seit vielen Jahren ihre Stadt regiert. Nachzudenken wäre eigentlich nicht nur darüber, sondern grundsätzlich über den zentralen Sinn und Zweck der parlamentarischen Demokratie: nämlich die Regierenden unblutig aus den Ämtern zu entfernen, wenn sie versagt haben. 

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Dieser Grundgedanke der Funktion von Wahlen und einer parlamentarischen Regierung war in den angelsächsischen Demokratien stets präsenter als in Deutschland. Hierzulande war bis 1918 die Regierung ohnehin nicht von einer bei Wahlen siegreichen Mehrheit bestimmt worden, sondern von einem über Parlament, Parteien und Wahlvolk stehenden Monarchen. Die „Abwahl“ der Regierenden war in Deutschland daher und auch aufgrund des Verhältniswahlrechts weniger im öffentlichen Bewusstsein verankert. Aber mittlerweile scheint es in Berlin überhaupt kein Bedürfnis mehr zu geben, den Wahlzettel zum Denkzettel für die bislang Regierenden zu machen.

Das Land Berlin kann keinen Flughafen bauen, überlässt dem organisierten Verbrechen ganze Straßenzüge, entlässt immer schlechter gebildete Schüler ins Erwachsenenleben der Bildung und bleibt ein finanzpolitischer Versorgungsfall für den Rest des Landes – und kann noch nicht mal eine Wahl korrekt organisieren. In Berlin scheint dennoch einer Mehrheit der Wähler der Gedanke, dass die Regierenden bei Wahlen für ihr Versagen abgestraft werden, gar nicht in den Sinn zu kommen. Das Bewusstsein dafür, dass für die offenkundige Unfähigkeit der Verwaltung des Stadtstaates (mittlerweile schon schrichwörtlich: „Dit is Balin“) die politische Klasse, die regierenden Parteien und Politiker verantwortlich sind, scheint in der deutschen Hauptstadt noch stärker verkümmert zu sein als anderswo. Da sollte man sich nicht wundern, dass die wiedergewählten politischen Versager einfach weiter versagen. Den Wählern schient es schließlich recht zu sein. 

Die anhaltenden Berliner Wahlerfolge für Parteien und Politiker, die in den vergangenen Jahren deutlich und immer wieder ihre Überforderung an der Regierung belegt haben, sind nur dadurch zu erklären, dass in Berlin die stillschweigende Umwandlung der Demokratie von einem politischen System der Interessenvertretung der Bürger und der Beschränkung von politischer Macht hin zu einem System der Umsetzung moralischer Ansprüche besonders weit fortgeschritten ist. Man wählt nicht mehr diejenigen, die sich für die Interessen der Wähler einsetzen und das Gemeinwesen zu deren Wohl verwalten (es jedenfalls versprechen), sondern diejenigen, die abstrakte moralische Prinzipien verkörpern. 

Derart schlechte Politik muss man sich leisten können. Die Berliner gönnen sich den Spaß jedenfalls.


 

 

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