Die Union will gegen die Reformpläne der Ampel-Koalition für das Wahlrecht zum Bundestag nötigenfalls mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht vorgehen. SPD, Grüne und FDP legten „die Axt an unser personalisiertes Verhältniswahlrecht“, sagt Ansgar Haveling, Justiziar der Unionsfraktion und Obmann der CDU in der Wahlrechtskommission des Bundestags. Damit hat er wohl auch recht. Nur ist es fraglich, ob das auch ein Verfassungsbruch wäre. Denn im Grundgesetz wird für die Wahl des Bundestages nicht auf einem personalisierten Verhältniswahlrecht bestanden. Die Wahl muss nach Artikel 38 allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein, aber: „Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz“.
Ob der Reformplan, der es ermöglicht, dass Direktkandidaten mit den meisten Stimmen im Wahlkreis dennoch nicht in den Bundestag einziehen, „eine eklatante Missachtung des Wählerwillens und des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips“ ist, wie der CSU-Abgeordnete Stefan Müller sich empört, kann man aber bezweifeln (womit noch nichts über die Güte der Reform selbst gesagt ist).
Erstaunlich, dass sich die Union bei ihrem Widerstand gegen die Wahlrechtsreform nicht auf ein Argument stützt, dass im politischen Diskurs der deutschen Gegenwart sonst meist großes Gewicht hat: nämlich das Tabu, mit der AfD zu kooperieren. Die Reformvorschläge der Ampel ähneln schließlich zumindest in ihren Grundzügen (soweit über diese in der Presse berichtet wird) einem Gesetzentwurf, den die AfD in der vorangegangenen Legislatur 2020 einbrachte.
Das Ziel, den Bundestag möglichst auf die gesetzlich vorgesehene Regelgröße von 598 Abgeordneten zu beschränken, eint als Grund der Reformnotwendigkeit ohnehin alle Reformvorschläge. Bei den vergangenen Bundestagswahlen war das Parlament immer weiter gewachsen – auf aktuell 736 Sitze. Grund sind Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate in den Wahlkreisen erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis in einem Bundesland zustehen. Die zusätzlichen Direktmandate darf die Partei nach bisherigem Wahlrecht behalten.
Die Ampel will nun, dass Wahlkreismandate verfallen können, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem Anteil an den Zweitstimmen (von der Ampel nun „Hauptstimme“ genannt) pro Bundesland zustehen. Die Wahlkreis-Kandidaten mit dem schlechtesten „Wahlkreisstimmen“-Ergebnis sollen dann leer ausgehen. „Die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis setzt also künftig neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch „Hauptstimmen“ voraus“, heißt es dazu im Gesetzesentwurf.
Ob die Ampel sich nun von der AfD inspirieren ließ (die Begriffe „Hauptstimme“ und „Wahlkreisstimme” kommen im AfD-Gesetzentwurf nicht vor), wird wohl nicht zu klären sein. Naheliegend ist jedenfalls: Die Parallele zwischen AfD-Gesetzentwurf und Ampel-Plan nimmt ein paralleles Interesse der kleineren Parteien auf, die ohnehin kaum Aussichten auf viele Direktmandate haben. Während die CDU und vor allem die CSU in Bayern durch viele Direktmandate und entsprechende Überhangmandate in ihrer Gesamtstärke im Bundestag nach dem geltenden Wahlrecht bevorzugt werden.
Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hält den zentralen Kern der Ampel-Reform für akzeptabel. „Wenn man das Verhältniswahlsystem mit einem System direkt gewählter Wahlkreiskandidaten kombiniert, gibt es keine perfekte Lösung. Dass die Verhältniswahl über die Zusammensetzung des Bundestages entscheidet, entspricht schon dem bisherigen System. Aber der Versuch, jeden Wahlkreis mit einem direkt gewählten Kandidaten zu besetzen und zugleich den Proporz zwischen den Parteien bei der Mandatsverteilung zu wahren, hat ja zu der ausufernden Zahl der Mandate geführt.“ Ihm ist wichtiger, die Zahl der Abgeordneten auf die gesetzlich festgelegte Zahl zu beschränken, als sowohl das Proporzsystem als auch das Wahlkreissystem ohne Einschränkung durchzuführen. „Bisher hatte die Ampel ja an einer Lösung gebastelt, bei der viele Wahlkreismandate nicht an den Kandidaten gegangen wären, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erhalten hat, sondern an den Zweitplazierten. Das wäre eine schlechte Lösung gewesen, weil die Demokratie mit dem Mehrheitsprinzip verbunden ist. Die jetzige Lösung ist akzeptabel.“
Die Frage der Wirkung der Reform auf die politische Kultur in Deutschland ist dagegen eine andere.