Dem Befund von Wolfgang Ischinger kann man kaum widersprechen: „Der Trend zum Rückzug der Demokratie hält an.“ Es sei, so sagte der Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz schon vor deren Beginn, „daher nicht verwunderlich, dass in Europa und darüber hinaus ein Gefühl der Hilflosigkeit zu wachsen scheint“.
Das Gefühl der Hilflosigkeit mag existieren und gerade angesichts der Krise in Osteuropa scheint es begründet. Aber ist Europa, ist der Westen wirklich sicherheitspolitisch „hilflos“? Natürlich nicht. Er hat ja eigentlich durchaus reichliche Hilfsmittel. Deutlich mehr und bessere sogar als Russland. In jedem sicherheitspolitischen Handbuch (zum Beispiel hier) ist das leicht nachzuschlagen: In jeder Hinsicht, sowohl numerisch als auch waffentechnologisch, ist die Nato Russland hoch überlegen. Auch der Vergleich der staatlichen Militärausgaben zwischen Russland und westlichen Staaten fällt eindeutig zugunsten des Westens aus.
Sogar ohne das gigantische Militär-Budget der USA geben die europäischen Nato-Mitglieder zusammen ein Vielfaches an Geld für ihre Streitkräfte aus verglichen mit Putins Russland: laut SIPRI allein Großbritannien mit 59,2 Milliarden US-Dollar fast so viel fürs Militär wie Russland (61,7 Milliarden US-Dollar). Seltsamerweise spielen diese Zahlen zwar bei Nato-Verteidigungsministertreffen für interne Vergleiche eine große Rolle, wenn um das 2-Prozent-Ziel gestritten wird, aber nicht in der gegenwärtigen Krise um die Ukraine und Russlands Kriegsdrohungen.
Offensichtlich ist Putins Russland sehr effizient in der Nutzung seiner militärischen Mittel zu Drohzwecken. Wenig mehr als 100.000 russische Soldaten an der langen Grenze der Ukraine genügen, um nicht nur die Ukraine, sondern den ganzen Westen einzuschüchtern. Zum Vergleich: Die Sowjetunion hatte Ende der 1970er Jahre allein in der DDR rund 370.000 Soldaten stationiert.
Der Westen hat womöglich noch nicht ganz realisiert, jedenfalls wird nicht laut darüber gesprochen: Die alten Mechanismen und Spielregeln des „Gleichgewichts des Schreckens“ im Kalten Krieg haben offensichtlich ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt. Heute genügt sehr viel weniger militärischer und damit auch finanzieller Aufwand, um den Westen zu bedrohen. Sowohl Quantität als auch technologische Qualität von Streitkräften sind ganz offensichtlich nicht mehr der alles dominierende Faktor der Sicherheitspolitik.
Das, was Russland nun tut, und die Lage, die es damit hervorruft, ist vielleicht besser zu verstehen, wenn man ein paar Monate zurück und noch weiter nach Osten blickt. Womöglich ist es kein Zufall, dass der russische Aufmarsch gegen die Ukraine-Krise unmittelbar nach dem wohl wichtigsten internationalen Ereignis des vergangenen Jahres begann: nämlich dem so gut wie widerstandsfreien Fall Afghanistans an die Taliban.
Die Taliban haben schließlich das bislang wohl extremste Beispiel für die Diskrepanz zwischen minimalen militärischen Mitteln und maximalem Machtgewinn vollführt. Einige Zehntausend Mann mit nur Handwaffen, ohne Geschütze, Panzer, Flugzeuge haben in wenigen Wochen fast kampflos eine zahlenmäßig weit überlegene und mit durchaus modernen, meist amerikanischen Waffensystemen ausgerüstete Armee buchstäblich aus der Welt geschafft.
Der Fall Afghanistans bietet also vor allem eine Lehre an: Die größte und bestausgerüstete Streitmacht ist nichts wert, wenn ihre Soldaten nicht bereit sind, zu kämpfen, also ihr Leben für die Sache zu riskieren, in deren Dienst die Truppe steht.
„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Der Spruch war in den frühen 1980er Jahren in aller Munde. Konstantin Wecker hat ihn – wie unzählige andere Friedensbarden im ganzen Westen – in einem schönen Lied vertont: „Wenn unsere Brüder kommen, mit Bomben und Gewehren, dann wollen wir sie umarmen, dann wollen wir uns nicht wehren.“ Damals war ab und an noch ein klein wenig verhalten geäußerte Empörung ob solcher Feiern des Wehrunwillens zu vernehmen. Aber die verpuffte schnell. Spätestens seit das Bundesverfassungsgericht 1995 die Aussage „Soldaten sind Mörder“ höchstrichterlich absegnete, war klar, dass die Botschaft sich durchgesetzt hatte, und zum öffentlichen Mainstream geworden war.
Angekündigt hatte sich diese Entwicklung im Westen schon seit Jahrzehnten – nicht zuletzt in Frankreich. Die rhetorische Frage „Mourir pour Danzig?“ kursierte dort im Sommer 1939, als das nationalsozialistische Deutschland den Konflikt mit Polen eskalierte. Und obwohl sich die damalige Regierung unter Èdouard Daladier schließlich doch entschied, dass französische Soldaten für Danzig beziehungsweise die Unabhängigkeit Polens kämpfen sollten, war die „Drôle de Guerre“, also das Nichtangreifen der Westalliierten in den ersten Kriegsmonaten 1939/40 natürlich auch ein Ausdruck dieses allgemeinen Unwillens zu kämpfen. So konnte die Wehrmacht dann in wenigen Wochen Frankreich vernichtend schlagen – obwohl sie entgegen nachträglicher Legendenbildung keineswegs numerisch und technologisch überlegen war, ganz im Gegenteil.
In Frankreich hat diese Erfahrung der eigenen Schwäche gegenüber einem an Kampfeswillen überlegenen Aggressor tiefe psychologische Spuren hinterlassen. Charles De Gaulle tat zwar nach 1945 alles dafür, seinen Franzosen einzubläuen, dass auch sie Nazi-Deutschland besiegt hätten. Aber die Résistance war mehr Mythos als Wirklichkeit. Und der Glaube daran wurde auch durch zwei weitere Niederlagen unterminiert – gegen technologisch und numerisch weit unterlegene, aber leidensfähigere und kampfeswilligere Feinde in Indochina und Algerien.
Man sollte sich heute vielleicht noch mal einen französischen Film von 1974 ansehen: „Les Chinois à Paris“ (Die Chinesen in Paris) ist eine bittere Komödie, eine Persiflage der westlichen Gleichgültigkeit, die schonungslos ausbreitet, wie die Franzosen wohl auf einen Überfall der Chinesen reagieren würden. Man ahnt es: Niemand gibt einen Schuss ab, Frankreich unterwirft sich. Eine Schlüsselszene spielt im Büro des Präsidenten (der sofort ins Exil geflohen ist), wo Offiziere nach dem Schlüssel suchen, um die Atomraketen zu aktivieren, da stehen plötzlich ungehindert die Chinesen vor der Tür – und alle heben angsterfüllt die Arme hoch, als ein unbewaffneter chinesischer Soldat mit Verbeugung eintritt. Eine Hauptperson des Films ist übrigens ein Industrieller, der sofort nach dem Eintreffen der Chinesen zum begeisterten Kommunisten wird.
Im August 2021 in Afghanistans Hauptstadt Kabul dürfte es zu ähnlichen Szenen gekommen sein. Der westlich orientierte Präsident machte sich rasch aus dem Staub, niemand lieferte den Taliban eine Schlacht. Die neue Machtübernahme der Taliban erinnerte in nichts an die blutige Endphase der kommunistischen Machthaber 1992 oder den ersten Talibansieg 1996.
Man könnte zu dem etwas sarkastischen Schluss kommen, dass die zwei Jahrzehnte der amerikanisch-westlichen militärischen, aber nicht zuletzt auch kulturellen Präsenz in Afghanistan eben doch nicht ganz folgenlos waren. Die Afghanen und vor allem die afghanischen Soldaten handelten gegenüber den Taliban schließlich nach dem im Westen kulturell dominierenden Konstantin-Wecker-Vorbild: Als ihre Brüder kamen mit Kalaschnikows und Mopeds, da wehrten sie sich nicht – obwohl sie viel mehr waren und viel besser bewaffnet. Mourir pour Kaboul?
Der Westen ist anscheinend für Afghanen und wohl die meisten anderen Gesellschaften zwischen Bamako und Kabul ein Auswanderungsziel, ein Ort, an dem es sich besser leben lässt – aber keine politische Idee, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das bestätigen auch die jüngsten Entwicklungen im nordafrikanischen Mali. Von dort sind viele Tausend Menschen nach Frankreich und andere europäische Länder ausgewandert, aber im eigenen Land sind französische Truppen wenig geachtet. Wie gering muss der Respekt der malischen Putschisten-Offiziere vor Frankreichs Armee und den anderen an den dortigen Militärmissionen beteiligten westlichen Truppen sein, dass sie in deren Anwesenheit ein mehr oder weniger offen russlandfreundliches Regime errichten. Durch den von Macron angeordneten Abzug können sie sich jetzt in ihrer Dreistigkeit bestätigt fühlen: Auf den Westen muss man keine besondere Rücksicht nehmen, wenn es brenzlig wird, zieht er seine Truppen ab.
Putin wird die Ereignisse in Afghanistan und in Mali aufmerksam verfolgt haben. Er weiß, dass niemand im Westen auch nur ansatzweise daran denkt, eigene Soldaten für Kiew sterben zu lassen. Mourir pour Kiew? Die Frage stellt sich gar nicht erst. Seine Russen wollen sicher auch nicht mehr zu Millionen für das Vaterland sterben, wie ihre Urgroßväter vor 1945. Aber er kann vermutlich (noch?) auf mehr Kampfbereitschaft seiner Soldaten und Unterstützung seiner Bevölkerung für begrenzte Kampfeinsätze rechnen als alle westlichen Staaten. Und darauf kommt es für ihn und sein Regime letztlich an. Nicht allein die ins Militär investierten Milliarden zahlen sich in der gegenwärtigen Welt sicherheitspolitisch aus, sondern die Glaubwürdigkeit, dass sich die Soldaten auch tatsächlich einsetzen lassen. Und da hat Putin einen deutlichen Vorsprung vor allen Europäern und auch den USA.
Die beiderseitige Glaubwürdigkeit war im Kalten Krieg die Voraussetzung dafür, dass das „Gleichgewicht des Schreckens“ funktionierte, also ein Gleichgewicht blieb. Wie Sting in seinem Lied „Russians“ 1985 sang: Man musste hoffen, dass auch die Russen ihre Kinder liebten. Aber, was er und andere Friedensbarden nicht sangen, gehört eben auch zur Geschichte des Kalten Krieges: Wenn statt eines Ronald Reagan und einer Margaret Thatcher im Westen Konstantin Wecker den Ton angegeben hätte, wären die Hardliner im Kreml vielleicht in große Versuchung gekommen loszuschlagen. Das kommunistische Regime der alten Sowjetunion ist nicht zuletzt deswegen zusammengebrochen, weil seine ineffiziente Ökonomie den gigantischen Militärapparat nicht mehr unterhalten konnte. Aber die Voraussetzung dafür war auch die glaubwürdige Wehrhaftigkeit des Westens.
Diese Glaubwürdigkeit ist im Westen in einem fortgeschrittenen Stadium der Erosion angelangt. Würde die Bundeswehr zum Kampf antreten, wenn russische Truppen irgendwann nicht mehr nur in der bündnislosen Ukraine, sondern gegen das Nato-Mitglied Estland aktiv würden? Hat sich das im Berliner Verteidigungsministerium, im Kanzleramt, oder sonstwo in Deutschland schon jemand ernsthaft gefragt? Und noch wichtiger: Glauben Putin und seine Generale, dass Nato-Verbündete dort wirklich gegen seine Soldaten kämpfen würden? Und auch in anderen Weltgegenden anderswo stellen sich ähnliche Fragen, zum Beispiel: Würden die USA für Taiwan kämpfen?
Wenn es eine Lehre aus den sicherheitspolitischen Entwicklungen und militärischen Einsätzen westlicher Staaten der jüngeren Zeit gibt, so lautet sie: In einer Welt der abnehmenden Wehrhaftigkeit im Westen ist der Frieden, sofern man ihn nur als Abwesenheit von großen Kampfhandlungen definiert, womöglich auf dem Vormarsch, aber die Bedrohungen für die Freiheit nehmen keineswegs ab. Eher im Gegenteil. Der Grund dafür, dass wie Ischinger sagt, „unsere Welt“ – er meint damit natürlich die so genannte regelbasierte Ordnung des Westens – „in Gefahr“ ist, ist aber wohl nicht nur ein ungedeckter Bedarf an Dialog, den Ischinger ausmacht. Die Gefahr ist aus der sinkenden Bereitschaft des Westens erwachsen, für die Freiheit zu kämpfen.
Denn die Aufwandskosten der Bedroher der Freiheit und Feinde des Westens sinken proportional mit dieser Bereitschaft. Nie war es billiger, den Westen und seine Ideen zu bedrohen. Am Ende dieser Entwicklung stünde dann die dystopische Voraussage Oswald Spenglers: „Ein handfester Führer, der zehntausend Abenteurer versammelt, kann schalten, wie er will.“