Tichys Einblick
Die Folgen werfen viele Fragen auf

Der Kampf gegen Corona könnte zum Pyrrhus-Sieg der Regierenden werden

Selbst unter höchst optimistischen Annahmen, werden die Regierenden irgendwann einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sein: War der Kampf gegen das Virus diese Opfer wert? Das werden bankrotte, arbeitslos gewordene Gastronomen, Einzelhändler, Arbeitnehmer und Freiberufler fragen.

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Nach düsteren ökonomischen Prognosen muss man derzeit nicht lange suchen. Nun wird uns also auch die Bundesregierung am Mittwoch verkünden, dass mit der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte zu rechnen sei. Wenn es stimmt, was Süddeutsche und Handelsblatt schon jetzt erfahren haben, dann erwartet die Regierung, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 um 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr schrumpfen wird. Und kurz zuvor lieferte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB, das sogar eine BIP-Schrumpfung um 8,4 Prozent erwartet, noch einen ebenso tristen Ausblick: „Die Zahl der Arbeitslosen wird auf Basis der Vorausschau in den nächsten Monaten auf über drei Millionen steigen.“  

Um vorauszusagen, dass die Rezession schwer wird, muss man kein Konjunkturforscher sein. Aber wie schmerzhaft die materiellen Einbußen dann wirklich werden, ist gerade in Deutschland noch nicht klar. Dank Kurzarbeit – mittlerweile hat nahezu jeder dritte Betrieb in Deutschland, in dem mindestens ein Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, Kurzarbeit angezeigt, nach einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung waren in der ersten Aprilhälfte circa vier Millionen Beschäftigte betroffen – in einem Sozialstaat, der selbst im Boom ein knappes Drittel des Bruttoinlandsprodukts umverteilt, werden hierzulande die größten Schmerzen erst verzögert eintreten. Die 26,5 Millionen US-Amerikaner, die seit März neu arbeitslos geworden sind, spüren sie schon jetzt.

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Aber Kurzarbeit und andere schmerzverzögernde Mittel des deutschen Sozialstaats heben die Ursachen ja nicht auf. Wenn das konjunkturelle V, also die erhoffte schnelle Erholung nicht innerhalb dieses Jahres eintritt und dann wieder ein Boom einsetzt, wird es auch hierzulande wieder Massenarbeitslosigkeit geben. Und dieses V ist nichts als eine Hoffnung, an die sich alle klammern. Selbst unter höchst optimistischen Annahmen, werden auch die hiesigen Regierenden irgendwann einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sein: War der Kampf gegen das Virus diese Opfer wert? Das werden nicht nur Tausende von bankrotten, arbeitslos gewordenen Gastronomen und Einzelhändlern fragen.

Die deutsche und alle Regierungen der Welt sind durch diese Pandemie in eine tragische Lage geraten. Wie die unglücklichen Helden in klassischen Tragödien hatten und haben sie zu entscheiden und abzuwägen zwischen Alternativen, die jeweils Opfer fordern. Ohne Schuld auf sich zu laden, kann kein Regierender durch diese Krise kommen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat das erkannt, als er im Interview sagte, dass der Staat dem Schutz des Lebens nicht alles andere unterordnen könne. 

Aber diese Erkenntnis fällt in postheroischen Gesellschaften zunächst schwer. Wenn es keine höchsten Güter jenseits des Lebens mehr gibt, also keinen Gott, kein Vaterland, keine Ehre oder andere Dinge, für die Menschen einst ihr eigenes oder das Leben anderer zu opfern bereit waren, ist eben der Schutz des Lebens selbst das höchste Ziel, für das gekämpft wird. Der „Krieg“, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ausrief, wird also gegen den Tod selbst geführt. Deutschland scheint hier im internationalen Vergleich ziemlich effektiv. Nicht so sehr im Kampf gegen die Infektion, aber im entscheidenden Kampf gegen ihre Tödlichkeit.  

Aber Siege sind nur echte Siege, wenn die Verluste, mit denen sie erfochten wurden, ein akzeptables Maß nicht überschreiten. König Pyrrhus von Epirus soll nach seinem Sieg über die Römer in der Schlacht bei Asculum im Jahr 279 v. Chr. zu einem Vertrauten gesagt haben: „Wenn wir die Römer in einer weiteren Schlacht besiegen, werden wir gänzlich verloren sein!“ Manche vermeintliche Siege werden im Nachhinein zu Pyrrhussiegen, also zu Niederlagen, weil sie einfach zu viele Opfer in den eigenen Reihen forderten.

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Was im wirklichen Krieg die Todesopfer sind, die die Kriegführenden ihren Untertanen oder Bürgern zumuten, sind in diesem Krieg gegen den Virus-Tod die ökonomischen Einbußen, die der Corona-Staat den Bürgern auferlegt. Und wie in den blutigen alten Kriegen um Ruhm und Ehre sind auch im Krieg gegen das Virus die größten Profiteure nicht unbedingt mit jenen identisch, denen der höchste Einsatz abverlangt wird. Im Kampf gegen das Virus gehören zum Beispiel Gastronomen und Einzelhändler und ihre Angestellten zu jenen, denen besondere Opfer abverlangt werden, Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst dagegen werden kaum Opfer abverlangt. 

Die ökonomischen Opfer, die der Kampf der Regierenden gegen den Corona-Tod fordert, sind jedenfalls schon jetzt so groß, dass die Regierenden wohl nicht mehr zugeben könnten, dass sie es übertrieben haben. Jetzt muss weitergekämpft werden, damit die ohnehin schon unvermeidbaren ökonomischen Verluste nicht umsonst gewesen sein werden. Das Phänomen kennt man auch aus anderen Zusammenhängen: Je größer der Einsatz, je gewaltiger die Entscheidung, desto sturer und rechthaberischer machen diejenigen, die sie getroffen haben weiter. Denn wenn sie aufhörten und umkehrten, müssten sie eingestehen, dass sie ungerechtfertigter Weise Millionen Menschen ärmer gemacht haben. Das würde keine regierende Partei überstehen. 

Das soll nicht heißen, dass klar wäre, dass alle Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung überzogen und falsch waren. Die Lage, in die die Pandemie die Gesellschaften, Volkswirtschaften und Staaten gebracht hat, ist eben eine tragische: Es gibt möglicherweise nicht die eine richtige Antwort. Was zunächst noch vernünftiger zu sein schien, kann im weiteren Verlauf unvernünftig werden – und umgekehrt. Aber die Kraft zur Selbstkorrektur bringen nur die wenigsten Entscheider auf. Denn sie bedeutet auch die Bereitschaft zum Rücktritt.  

So ähnlich ist übrigens wohl auch die Sturheit der Merkel-Regierung nach ihrer fatalen Entscheidung vom September 2015 zu erklären. Einen grundlegenden Irrtum korrigieren zu können, gehört nicht zu den charakterlichen Eigenschaften von Spitzenpolitikern. Zumindest nicht heutzutage. Die Frage „Und was wird aus mir?“ hat da stets absolute Priorität. Also lieber mit der falschen Politik oben bleiben, als für die bessere abtreten.

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Wie nach jedem Krieg, so werden sich auch nach dem gegen das Coronavirus nach Ende der Feindseligkeiten innere Konfliktlinien auftuen zwischen denen, die große Opfer erbrachten und denen, die wenig leiden mussten oder gar profitierten. Diese zu befrieden und für einen Lastenausgleich zu sorgen, wird vor allem dann zu einer entscheidenden politischen Aufgabe, wenn die Opfer insgesamt sehr groß gewesen sein werden und der „Sieg“ nicht offensichtlich. Von den jetzt Regierenden ist ein ehrlicher Versuch eines Lastenausgleichs, wie es ihn zu Adenauers Zeiten gab, kaum zu erwarten. 

Die gewieften unter den Regierenden, also erst recht die Kanzlerin, werden sich vermutlich eher auf ihre bewährte Methodik des politischen Überlebens verlassen: Confunde et impera! Herrschaft durch Verwirrung. Sie werden also versuchen, das wahre Ausmaß der ökonomischen Verwerfungen möglichst zu verschleiern und den Prozess der Realisierung der Verluste so weit wie möglich in die Länge zu ziehen. Das geschieht in Deutschland besonders erfolgreich durch die Kurzarbeit und hier wie überall sonst durch die astronomischen Hilfsprogramme, die durch Schulden und durch eine anhaltend lockere Geldpolitik der Zentralbanken „finanziert“ werden. Die Regierenden laden also ihre und unsere Hoffnungen und Lasten mal wieder auf diejenigen, die jetzt noch jung oder ungeboren sind. Die Zukünftigen sollen die Gegenwärtigen rausboxen. Wieweit das funktionieren wird, hängt aber auch am Ausmaß der ökonomischen Krise. Oder, wie es beim IAB lapidar heißt: „Es kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass die Situation in der Weltwirtschaft zu einer systemischen Krise eskaliert.“

Andererseits wird es für die Regierenden in allen Ländern darum gehen, den „Sieg“ im Kampf gegen den Corona-Tod möglichst eindeutig erscheinen und somit Zweifel an der Angemessenheit der eingesetzten Mittel nicht aufkommen zu lassen. Die im internationalen Vergleich geringen Todeszahlen geben dafür der Bundesregierung einerseits den passenden Stoff. Andererseits könnte auch gerade das Ausbleiben der von manchen Epidemiologen prophezeiten hohen Todeszahlen nicht als Sieg, sondern als Beleg dafür gewertet werden, dass der Feind gar keine wirkliche Bedrohung war und daher den großen Opfern kein sie ausreichend rechtfertigender Grund gegenüberstehe. Umsonst gekämpft zu haben, das ist der größte annehmbare Demotivator. Wenn sich nämlich dieses Empfinden – „Und dafür haben wir so viel verloren!“ – durchsetzen sollte, könnte es für die Regierenden, die diese Opfer eingefordert haben, doch noch sehr ungemütlich werden. 

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