Hartnäckig hält sich ein Gerücht in der Welt. Es handelt von der Gegnerschaft zwischen der „Zivilgesellschaft“ – im Folgenden vereinfachend mit NGOs gleichgesetzt – und der „Wirtschaft“, also Kapitaleignern und Managern, Ökonomen und Technokraten in Verbänden und Wirtschafts-Institutionen, jene global-etablierte Elite eben, die sich selbst meist unter dem pseudo-schlichten Begriff „leaders“ zusammenfasst und sich alljährlich im Schweizer Wintersport-Städtchen Davos ein Stelldichein gibt. Tatsächlich existiert dieser Gegensatz in sehr viel geringerem Ausmaß, als jene NGOs gerne glauben machen. Sie rennen mit größter medialer Aufmerksamkeit Türen ein, die ihnen sperrangelweit aufgehalten werden. Nicht zuletzt in Davos.
Das World Economic Forum (WEF) ist längst nicht mehr nur ein Treffen von Unternehmenslenkern und Ökonomen mit führenden Politikern und Spitzenbeamten. Längst ist das WEF auch ein öffentliches Schaulaufen der NGOs. Und nirgendwo in Davos erfahren sie öffentliche Zurückweisung. In Gegenteil. Die WEF-Tagung des vergangenen Jahres war so etwas wie die mediale Krönungsfeier von Greta Thunberg zur Königin der globalen Zivilgesellschaft. Und so ist es nur konsequent, dass Greta auch in diesem Jahr wieder dabei ist – und die Bild-Zeitung sogar ihre Leser fragt, ob Thunberg oder Donald Trump die wichtigere Person in Davos sei. Neben Thunberg sind zehn weitere „teenage Changemakers“ eingeladen, die am aufmerksamkeitsstärksten ersten Tag ihren Auftritt unter der Überschrift „Forging a Path to a common Future“ hatten. Auch Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan, Occupy-Wallstreet-Mitgründer Micah White und der Chef von Human Rights Watch Kenneth Roth und die Präsidentin der „Association for Indigenous Women and Peoples of Chad“ bevölkern die Podien.
Nur scheinbar treffen da fundamentale Gegensätze aufeinander. Tatsächlich versteht man sich, weil beide – NGO-Vertreter und die Davoser Wirtschaftselite – auf demselben gemeinsamen moralischen Fundament stehen. Es ist die Idee von der Weltverbesserung. Oder wie es Klaus Schwab, Gründer und immer noch die graue Eminenz des WEF, selbst als Mission-Statement formulierte: man ist „committed to improving the state of the world.“
Der einzige wirklich tiefe Graben offenbarte sich zwischen Donald Trump und dem Rest von Davos. Trump schwärmte in seiner Rede von der neuen wirtschaftlichen Stärke Amerikas seit seinem Amtsantritt und wollte von ökologischen Sorgen nichts wissen. Woraufhin ein fassungsloser Robert Habeck ganz undiplomatisch in eine Handkamera des ZDF sagte: „Das war die schlechteste Rede, die ich in meinem Leben je gesehen habe.“ Denn: „Nur Selbstlob, Ignoranz, Missachtung von allen Leuten, kein Gespür, keine Wahrnehmung für globale Probleme.“ Trump sei „der Gegner, er steht für alle Probleme, die wir haben“. Schon verrückt: Der Grünen-Chef, der im selben Statement davon spricht, dass er das Wirtschaftssystem gern „radikaler“ verändern möchte, passt besser zum Weltwirtschaftsforum als ein US-Präsident, der von Wirtschaftswachstum schwärmt.
Davos ist aus seiner Gründungszeit zu verstehen. Der „Spirit of Davos“ ist Ergebnis und Höhepunkt der „Ethikwelle“, die der Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff seit etwa 1970 feststellt. Als Schwab 1971 das erste, damals noch “European Management Forum” genannte Treffen abhielt, stand „die Wirtschaft“ im Kreuzfeuer: Einerseits durch den Neo-Marxismus der 1968er, andererseits durch das erwachte ökologische Bewusstsein. Damals gab es zwischen beiden übrigens noch kein selbstverständliches Bündnis. Schwab und Davos standen und stehen für eine bis heute höchst erfolgreiche Methode, auf diese Herausforderungen zu reagieren: Statt sich aggressiv zu verteidigen, setzte und setzt er auf Umarmung der Kritiker und totale Moralisierung.
Das ist das Erfolgsgeheimnis des Konsumismus als Gesellschaftsordnung: Man bekämpft vermeintliche Feinde nicht, man vereinnahmt sie, macht sie zu Mitakteuren. Es gibt eigentlich keine Feinde, sondern nur künftige Handelspartner und Konsumenten. Wer „die Wirtschaft“ nur laut und emotional genug angreift, muss heute nicht mehr wie einst die streikenden Bergleute in Emile Zolas Roman „Germinal“ damit rechnen, von Gendarmen niedergestreckt oder eingesperrt zu werden. Man wird stattdessen vom Siemens-Vorstandschef in einen Aufsichtsrat oder eben von Klaus Schwab nach Davos eingeladen. Und darf dort den Leaders ordentlich die Leviten lesen.
Das war schon 1973 so, als der Club of Rome in Davos seine „Grenzen des Wachstums“ vorstellte. Jener Club of Rome übrigens ist selbst eine Eliten-Gründung des Industriellen Aurelio Peccei und des OECD-Direktors Alexander King. Im selben Jahr setzte Schwab sein „Davoser Manifest“ auf, in dem er seine Idee des „stakeholder capitalism“ in Worte fasste. Unternehmensführungen müssen demnach nicht nur Kunden, Geldgebern und Mitarbeitern dienen. Sie müssen auch „der Gesellschaft dienen“ und die Interessen all dieser Stakeholder „harmonisieren“. Das Management müsse „die Rolle eines Treuhänders der materiellen Welt für künftige Generationen übernehmen“. Und, heute besonders aktuell: Manager müssen „garantieren, dass ihre Unternehmen der Gemeinschaft angemessene Steuern zahlen, damit die Gemeinschaft ihre Ziele erreichen kann.“
Der Manager wird in Davos zum scheinbar selbstlosen Diener anderer interpretiert, der nicht im eigenen Interesse nach Profit strebt. Er hat keinen egoistischen Ehrgeiz, keine Macht- oder Habgier. Er will nur dienen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Profitabilität ist laut diesem Manifest nur ein Mittel, das langfristige Überleben des Unternehmens zu garantieren, und dies ist keinesfalls ein Selbstzweck: „Also ist Profitabilität das notwendige Mittel um dem Management zu ermöglichen, seinen Kunden, Inhabern, Mitarbeitern und der Gesellschaft zu dienen.“ Vom freien Markt steht in diesem Manifest der totalen Moralisierung der Wirtschaft übrigens kein Wort. Auch das ist ein hartnäckiges Gerücht: dass ökonomische Eliten den Markt lieben …
Die gegenwärtige Weltelite der Wirtschaft lässt sich offenbar gerne selbst anklagen. Oder, wie es der Chef der Boston Consulting Group, Rich Lesser, im FAZ-Interview zum WEF formulierte: „Die Jungen müssen uns Druck machen.“ Man reagiert auf Schuldzuweisungen – von Greta und Co – nicht mit wütenden Zurückweisungen, sondern mit einer Art Schuldstolz. Ja, wir sind übel, aber wir bessern uns. Vor dem diesjährigen Forum ließ Schwab etwa diesen Satz über die sozialen Medien verbreiten: „Das Festhalten am gegenwärtigen Wirtschaftssystem bedeutet einen Betrug an künftigen Generationen angesichts seiner Umwelt-Nichtnachhaltigkeit.“ In einem Video fordert das WEF, „Organisationen“ sollten auf naturbezogene Risiken reagieren, so dass sie an der Spitze blieben, „während die Welt eine Natur-positive Wirtschaft formt“.
Aber würde auch einer der Davoser sagen: „Die Bauern müssen uns Druck machen“? Oder gar: „Die Populisten müssen uns Druck machen“? Bis jetzt unvorstellbar, dass ein Populistenpolitiker in Davos seine Ansichten vertreten könnte, bevor er, wie Bolsonaro oder Donald Trump, die Macht bereits erobert hat. Aber vielleicht wäre das gar keine schlechte Idee, wenn das WEF unter „improving the state of the world“ auch die innere Befriedung einzelner, nationaler Gesellschaften verstünde. Denn nach Davos eingeladen zu werden bedeutet eine Botschaft: Ihr müsst uns nicht stürzen, wir verstehen ja, was ihr wollt. Wer nach Davos eingeladen wird, ist aufgenommen in den Club der Mächtigen, auch wenn er keine Milliarden besitzt – solange er nur die ganze Welt retten will.