Es war still geworden um den „deutschen Sonderweg“. Jahrzehntelang war er ein Lieblingsthema deutscher Geschichtsschreibung. Bei Nachkriegshistorikern wie Hans-Ulrich Wehler stand dahinter die Vorstellung einer geradezu verfluchten Nation, die eben nicht nur zu spät kam auf dem westlichen Normalweg (der übrigens nie so eindeutig definiert wurde), sondern auch schon ganz früh (spätestens mit Luther) falsch abgebogen war, so dass die menschheitsverbrecherische NS-Herrschaft eine Art langfristige Konsequenz aus Jahrhunderten der Fehlentwicklung war. Vor 1945 war es übrigens umgekehrt: Da wollten viele deutsche Historiker eine Auserwähltheit Deutschlands erkennen zur Rettung des Abendlands. Die Gedichtzeile „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“ eines sonst völlig belanglosen Dichters namens Emanuel Geibel von 1861 ist dafür berüchtigt.
Und jetzt ist er wieder da. Es spricht zwar niemand in Berlin davon. Klar, schließlich sieht die deutsche politische Klasse der Gegenwart sich als so undeutsch wie nur möglich und damit als sozusagen konstitutiv unfähig, wieder einen deutschen Sonderweg zu beschreiten. Aber faktisch ist es doch unübersehbar: Um Deutschland herum werden Corona-Maßnahmen aufgehoben, der amerikanische Präsident, also der zweifellos wichtigste Politiker der westlichen Welt erklärt die Pandemie für beendet. Deutschland dagegen hat sich gerade erst ein neues Infektionsschutzgesetz gegeben, mit dem die Corona-Politik fortgeführt wird.
Doch Corona ist eben längst nicht der einzige deutsche Sonderweg. Er ist vielleicht sogar der harmloseste: Schließlich betrifft er die außerhalb der deutschen Landesgrenzen Lebenden kaum. Das gilt für die anderen Sonderwege nicht.
Besonders augenfällig und die Nachbarn störend ist derzeit der Energiesonderweg Deutschlands: Das größte Industrieland des Kontinents in der Mitte des europäischen Stromnetzes glaubt, aus Atomkraft und fossiler Verbrennung gleichzeitig aussteigen zu können, gibt sich damit auch noch als Vorbild für den Rest der Welt („am deutschen Wesen …“), während man darauf hoffen muss, im Zweifel vom moralisch verurteilten Atom- und Kohlestrom seiner Nachbarn etwas abzubekommen.
Ein weiterer seit mindestens sieben Jahren unkorrigierter Sonderweg ist Deutschlands Migrationspolitik. Das Muster war und bleibt ähnlich wie im Fall der Energie: Deutschland glaubt 2015 den Nachbarländern und dem Rest der westlichen Welt ein leuchtendes Beispiel der Offenheit für Wohlstandszuwanderung geben zu müssen. Doch es folgte kaum ein anderes Land. Und es waren andere Länder, die die unmittelbare Überforderung Deutschlands durch Schließen der Balkan-Route verhinderten.
Aber es sind eben nicht nur Regierungen, die sich als „rechtspopulistisch“ brandmarken lassen. Frankreichs Emmanuel Macron, ein Liebling der Classe Politique in Berlin und Brüssel, hat gerade ein rundum erneuertes Migrationsrecht angekündigt. Im Ton unterscheidet er sich von Meloni und Co. Aber die Tendenz ist eindeutig: Die bisherige Einwanderungspolitik sei „absurd“. Wahrheitswidrig behauptet er auch, Frankreich habe „ein System der finanziellen, sozialen, medizinischen Hilfen, die viel großzügiger sind, als die all unserer Nachbarn“. Da hat er Deutschland wohl übersehen. Jedenfalls ist klar, dass das Ziel von Macrons Politik, an der sein Innenminister Darmanin schon nach Kräften arbeitet, darin besteht, unattraktiver zu werden für Wohlstandszuwanderung.
Deutschland dagegen baut seine sozialstaatlichen Anreize weiter aus, erleichtert den Zugang zur Staatsbürgerschaft in geradezu inflationärer Weise und schleift die letzten Zugangshürden. Der Zustrom schwillt entsprechend wieder auf ein Niveau, das an 2016 erinnert.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade grüne Politiker wie Robert Habeck („Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht“) mit ihrer konsequent auslandsblinden Politik ein typisch deutsches Muster erfüllen. Darauf haben sich viele Deutsche stets etwas eingebildet. Als Dichter und Denker haben sie mit dieser Devise des „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“ (Richard Wagner) zweifellos Großes und Bleibendes geleistet. Aber in der Politik war das stets eine Quelle des Unglücks für sie selbst und die Nachbarn.
Deutschlands politisch-mediale Klasse täte heute wie in früheren Zeiten gut daran, weniger für das Genesen der Welt den anderen Ländern voranzuschreiten, sondern sich bescheiden und realistisch, aber selbstbewusst an der „Kinderhymne“ Bert Brechts zu orientieren:
Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.
Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das Liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.