Es hätte eigentlich nun wirklich keines Beleges mehr dafür bedurft, dass Christian Lindner, der 2017 mit dem Motto „lieber nicht regieren als schlecht regieren“ den Anschein der Prinzipientreue und Standhaftigkeit vermittelte, nun exakt das Gegenteil davon verkörpert. Aber Lindner hat in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung trotzdem nochmal einen solchen Beleg gegeben. Es ist ein Dokument darüber, wie das offensichtlich unbedingte Verlangen nach der fortgesetzten Teilhabe an der Macht den Charakter verderben, also jedes aufrichtige Wort verhindern kann.
Immerhin zeigt Lindner aber auch Humor, als er auf die Frage, wann „der letzte Euro aus den diversen Krisenprogrammen erstattet“ sein werde, antwortet: „Die Pandemiekredite der vergangenen Jahre werden in den fünfziger Jahren zurückgeführt sein. Ähnlich verhält es sich mit den Krediten, die wir jetzt aufgrund des Energiekrieges aufnehmen müssen.“ Im Jahre 2060 sollte man den dann 91-jährigen Lindner nochmal darauf ansprechen.
Leider kam der Interviewer nicht auf die Idee zu fragen, wie hoch denn die Kosten des Nichtbetriebs der Kernkraftwerke sind, und welche Versicherung eigentlich bereit ist, das Risiko der Energiewende abzubilden. Das letzte bisschen Rest an Nicht-mit-den-Grünen-einverstanden-Sein zeigt Lindner schließlich dann doch noch, als der Interviewer feststellt: „Aber die Sonne scheint nicht immer.“ Worauf Lindner immerhin die Forderung stellt, „dass wir unsere heimischen Öl- und Gasvorkommen explorieren und nutzen sollten, sowohl in der Nordsee als auch an Land“.
Wie energisch Lindner seine Forderungen nicht durchsetzt, wird auch in diesem Interview aus seiner Wortwahl deutlich: Er will „nach diesem Energiekrieg über eine Verbesserung der Attraktivität des Standorts Deutschland mithilfe des Steuerrechts nachdenken“. Nicht etwa verbessern will er die Attraktivität, sondern darüber nachdenken. Er sorgt auch nicht für eine stabile Finanzpolitik, sondern: „… dränge ich darauf, unsere Finanzpolitik nicht so expansiv anzulegen wie während der Corona-Pandemie“.
Zum Einstieg des chinesischen Staatskonzerns Cosco im Hamburger Hafen sagt er: „Das ist verantwortbar, wenngleich ich auf das damit verbundene politische Signal gerne verzichtet hätte. Wir werden für künftige Fälle darauf hinwirken, unsere gesetzliche Investitionskontrolle zu verbessern.“ Er hätte gerne verzichtet, konnte aber offensichtlich nicht; er verbessert nicht, sondern wirkt darauf hin.
Selten hat ein Mann so sehr an seiner Machtposition gehangen und dabei so bereitwillig auf die Ausübung dieser Macht verzichtet.