Aus der bald zweitausendjährigen Geschichte der katholischen Kirche kann man vor allem eines lernen: wie es eine große Organisation über lange Zeit schaffen kann, sich selbst zu erhalten. Phasen des inneren Verfalls hat die Kirche immer wieder überwunden durch Kraftakte der Selbstwiederfindung in großen Reformen. Gerade eine Partei, die sich Christlich nennt und deren Wurzeln zum beträchtlichen Teil auf die katholische Kirche zurückgehen, sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Die CDU der Gegenwart nämlich ist die Partei der überfälligen, verweigerten Selbsterneuerung.
Der CDU steht gewissermaßen bevor, was in der Kirchengeschichte die Cluniazensische Reform war. Im 10. „dunklen“ Jahrhundert war das Papsttum in Rom zwar noch das religiöse und wohl auch politische Zentrum der Christianitas, so wie die CDU immer noch das Kanzleramt beherrscht. Aber wer Augen hatte, konnte sehen, dass es so nicht mehr lange weitergehen würde: Skrupellose Päpste aus römischen Patrizierfamilien lösten einander mit nepotistischen und teilweise mörderischen Methoden ab, einer war korrupter als der andere. Die Simonie, also das Verkaufen von kirchlichen Ämtern auch an Nichtpriester (Laieninvestitur), war gängige Praxis. Als trauriger Höhepunkt der Verkommenheit gilt Johannes XII., der angeblich noch nicht einmal Latein beherrschte, also gar nicht die Bibel lesen konnte, und nach Aussagen von Zeitgenossen „sein ganzes Leben mit Ehebruch und Eitelkeit zugebracht“ haben soll.
Schließlich rettete sich die Kirche selbst durch die Cluniazensische Reform. Sie gingen nicht von Rom aus, dem Zentrum der päpstlichen Macht, sondern von einem Kloster in Cluny in der burgundischen Provinz. Es waren die dortigen Äbte Berno und Odo, die die alten benediktinischen Grundsätze – „ora et labora et lege“ („Bete, arbeite und lese!“) – wieder ernst nahmen und streng befolgten. Bald wurde daraus eine große, kraftvolle Bewegung, der sich auch das Papsttum nicht mehr verschließen konnte. Schließlich stießen Mönche aus Cluny und anderen Reformklöstern die gregorianischen Reformen der Kirche in Rom an, die auch das Ende der Simonie, der Priesterehe und der Laieninvestitur brachten. Das Papsttum erreichte daraufhin mit Gregor VII. bekanntlich auch den Höhepunkt seiner politischen Macht in Europa. Nicht zuletzt weil es wieder glaubwürdig im wahrsten Sinne des Wortes geworden war.
Auch politische Parteien im 21. Jahrhundert müssen glaubwürdig sein, wenn sie langfristig bestehen wollen – und nicht nur ihre gegenwärtig leitenden Köpfe mit einträglichen Ämtern versorgen wollen, wie die römischen Patrizier im 10. Jahrhundert. CDU und CSU sind – auch ohne Pornokratie und Simonie – ähnlich innerlich verfallen und dadurch unglaubwürdig geworden, wie das Papsttum jener dunklen Zeit. So wie Johannes XII. unwillig oder unfähig war, die Bibel zu lesen, also gar nicht wusste, was seine Aufgabe als Stellvertreter Christi auf Erden eigentlich war, und damit letztlich auch seine eigene herausgehobene Position nicht vor den Zeitgenossen (und erst recht nicht vor der Geschichte) rechtfertigen konnte, weiß auch die merkelsche CDU-Führung nicht mehr so recht, was eigentlich ihre Existenzberechtigung ausmacht.
Eine Untersuchung des Karlsruher Unternehmens Thingsthinking mithilfe künstlicher Intelligenz zeigte, dass rund 70 Prozent der Vorhaben und Positionen im aktuellen Koalitionsvertrag auf das Parteiprogramm der SPD zurückgehen. Davon abgesehen, so sagte der Chef von Thingsthinking sei sich ein Drittel der beiden Wahlprogramme ohnehin sehr ähnlich. Leider gibt es keine entsprechende Untersuchung über die Programme von Union und Grünen. Aber die Tendenz dürfte wohl ähnlich sein. So hat Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der Zeit, Merkel als „erste Kanzlerin der Grünen“ bezeichnet.
Die von Merkel geführte CDU benahm sich, um sie einmal nicht mit dekadenten Päpsten zu vergleichen, wie ein Schüler, der bei seinem Banknachbarn abschreibt, weil er zu faul oder dumm ist, die gestellten Aufgaben aus eigener Kraft zu lösen. Und weil das so einfach ist, gewöhnt er sich das ernsthafte Lernen und Nachdenken ab. Er versäumt es, selbst zu denken, sich auf seine eigenen Stärken und seinen eigenen Kopf zu verlassen. Schülern, denen es nur um gute Noten, also oberflächlichen, kurzfristigen Erfolg geht, sagt man: Non scholae, sed vitae discimus – nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.
Eine entsprechende Mahnung hätte auch die Union bitter nötig. Wofür macht die CDU Politik? Ein typischer CDU-Spitzenpolitiker würde vermutlich sagen: „Um das Land voranzubringen“ oder eine ähnliche Phrase. Eine ehrlichere Antwort wäre: Na, um Wahlen zu gewinnen, Regierungen zu bilden, Macht zu haben, Posten zu verteilen. Aus ähnlichen Gründen also wie die römischen Patrizierfamilien des dunklen Jahrhunderts sich um das Amt des Papstes stritten.
Die Folge ist eine CDU, die heute wie ein großer alter Baum dasteht: Nach außen noch imposant, aber im Innern schon morsch oder gar hohl.
Die CDU hat solch einen Reformprozess in der Opposition schon einmal relativ mustergültig durchlaufen. Nämlich in den 1970er Jahren. Das war programmatisch wohl die fruchtbarste Epoche in ihrer Geschichte. Dafür steht kaum ein Unionspolitiker so sehr wie der in diesen Tagen 90 Jahre alt gewordene Kurt Biedenkopf, der damals Generalsekretär war. Die CDU war damals eine lebendige, diskutierende Partei. Auch die SPD übrigens war programmatisch stets lebendiger in jenen Phasen, als sie nicht regierte.
Da sie seit 2005 mit Unterbrechung gemeinsam regierten, konnten beide alten einstigen Volksparteien diese Chance der Selbstvergewisserung und programmatischen Selbsterneuerung in der Opposition bekanntlich nicht nutzen. Die Ära Merkel ist darum vor allem die Ära der verpassten inneren Reform und Selbstwiederfindung der CDU. Für die langfristige Zukunft beider Parteien und auch des deutschen Parteiensystems als Ganzes ist das fatal. Die regierende CDU, dieser innerlich morsch und hohl gewordene Baum, fällt nur deswegen nicht um, weil er sich an einen anderen, genauso innerlich morschen Baum anlehnt. Gemeinsam stützen sie sich noch ein Weilchen, bis der nächste Sturm sie umweht, weil sie aus den Wurzeln längst nicht mehr genug Saft ziehen.
Der gegenwärtig regierenden Berufspolitikergeneration des Spätmerkelismus scheint das recht zu sein. So lange wie sie aktiv ist, so wohl die Hoffnung, wird der Baum noch stehen bleiben. Und dann? So gerne Politiker auch das Wort „Zukunft“ im Munde führen, handeln tun sie eher nach dem Motto der Madame de Pompadour: „Après nous le déluge“ – „Nach uns die Sintflut“, soll die ebenso schöne wie kluge Mätresse des französischen Königs 1757 gesagt haben. Eine Sintflut kam zwar nicht, aber die Revolution hatte für das Königshaus und das gesamte ancien régime dieselben Folgen.
Die Kirche hatte damals und hat auch ein Jahrtausend später immer noch eine wohl unerschöpfliche Ressource: Die frohe Botschaft vom Mensch gewordenen Gott, der sich von den Menschen und für die Menschen ans Kreuz schlagen lässt, ist wohl die größte Geschichte aller Zeiten. Sie ist so stark und anziehend, dass das Christentum trotz aller Verfehlungen und sogar Verbrechen der Kirchen immer wieder Menschen begeistert hat. Und vielleicht ist das Christentum als Religion darum auch immer wieder erneuerbar.
Die Union müsste sich, wenn die Selbstwiederfindung und Erneuerung dauerhaft gelingen soll, auf ihre zeitlosen Ressourcen konzentrieren. Eine, vielleicht sogar die wichtigste ist der Konservatismus. Vielleicht sollte man das sperrige und schlecht beleumundete Wort in der politischen Kommunikation besser einfach übersetzen: es geht ums Bewahren als politische Aufgabe.
Die Botschaft, die eine postmerkelistische, aus sich selbst wiederbelebte Union dem Wähler zu verkünden hätte, ist nicht in der Zukunft zu suchen. Das ist das traditionelle Geschäft der Linken. Die drei linken Parteien und nicht zuletzt auch die von ihnen programmatisch abschreibende morsche Merkel-CDU machen den Bürgern einerseits Angst vor der drohenden Apokalypse und versprechen ihnen zugleich, die ganze Welt zu retten (auf Kosten der Bürger selbst). „Unsere gesamte Art des Lebens werden wir in den nächsten 30 Jahren verlassen“, drohte Merkel in Davos an.
Machen wir uns dagegen klar: Die meisten Bürger der früh industrialisierten, reifen Wohlstandsgesellschaften sind solche, die etwas zu verlieren haben. Solche Bürger wünschen sich keine utopischen Versprechen, sondern Stabilität. Die wollen ihre Art des Lebens nicht „verlassen“, sondern verhindern, dass sie es müssen.
Die Bedürfnislage einer solchen Gesellschaft, in der immer mehr Menschen die scheinbaren Gewissheiten früherer Jahrzehnte, „Wohlstand für alle“ und innere wie äußere Sicherheit, zu verlieren fürchten, ist eigentlich im Wortsinne „konservativ“: Die Bürger wünschen sich von der Politik die Bewahrung des Erreichten, sowohl des materiellen Wohlstands als auch der Freiheiten und zivilisatorischen Errungenschaften der westlichen Kultur angesichts heraufziehender fundamentaler Bedrohungen. Und selbstverständlich wünschen sie sich auch die Bewahrung der Natur und ihrer Lebensgrundlagen.
Wenn die CDU ihre cluniazensische Reform nicht bald erlebt, wenn in ihren Mitgliedern an der Basis und vor allem unter den jungen der Wille und die Kraft für die notwendige Selbsterneuerung nicht ausreichen, dann bleibt ihr wohl nur eine möglicherweise lange hinausgezögerte aber schließlich unvermeidliche Agonie. Die Grünen und die AfD und womöglich neue, heute noch unbekannte politische Kräfte werden ihre Trümmer einsammeln.