Angeblich interessiert sich Angela Merkel seit einiger Zeit vor allem für Außenpolitik. Angeblich will sie da noch was erreichen. Mehr als die Hälfte ihrer jüngsten Rede vor dem Bundestag widmete sie der Nato, der EU, China, der Weltlage. Deutschland scheint der seit über 14 Jahren Regierenden zu klein geworden. Sie hat ja nun auch oft und lange genug bewiesen, dass ihr innerhalb Deutschlands niemand wirklich das Wasser reichen kann.
Es ist aber nicht wirklich klassische Außenpolitik, die Merkel betreibt. In der geht es darum, die Interessen des eigenen Landes zu befördern. Das ist Merkel und mit ihr dem Gros der deutschen Außenpolitiker allerdings erklärtermaßen fremd. Merkel hat in ihrer bewährten Methode der Verwirrung sogar eine absurde Neudefinition der nationalen Interessen vorgenommen, die sie in mehreren Reden, zum Beispiel in Davos im Januar, schon als Leit-Narrativ ihrer Spätphase verkündet hat: „Ich glaube, wir sollten unsere nationalen Interessen jeweils so verstehen, dass wir die Interessen anderer mitdenken und daraus Win-Win-Situationen machen, die die Voraussetzung für multilaterales Handeln sind.“
Die Kanzlerin kennt die Deutschen und nutzt die psychosozialen Bedingungen dieses Landes ausgesprochen geschickt für ihre Zwecke. Sie bedient Sehnsüchte – nicht Interessen.
Wenn Merkel jetzt vor dem Bundestag mit Blick auf Emanuel Macrons provokante, aber doch letztlich wirklichkeitsnahe Feststellung, die Nato sei „hirntot“, den Satz sagt: „Europa kann sich zurzeit allein nicht verteidigen“, dann klingt das für einen Franzosen wie eine Beleidigung. Für viele Deutsche klingt das eher wie eine Erleichterung. Merkel weiß, dass sie mit stolzen Bekundungen eigener Wehrhaftigkeit in jenen Kreisen, deren Unterstützung sie sucht, keine Sympathien gewinnt.
Merkel bedient – in Wort und Tat – den Wunsch nach dem „Ende der Geschichte“, der in Deutschland noch stärker ausgeprägt ist als im Rest des Westens. Das Ende der Geschichte, das bedeutet das Ende der vermeintlich alten Welt der Konflikte, in der Politiker die Interessen der eigenen Leute, des eigenen Landes gegen Widerstand und unter Risiken schützten. Merkel macht Politik für Leute, die noch immer vom Ende der Geschichte träumen – obwohl sie schon längst wieder da ist.
Merkels Außenpolitik für Deutschland folgt letztlich derselben Handlungslogik wie ihre Parteipolitik für die CDU: Es ist eine Politik der Schwächung des eigenen Landes zum Zwecke des persönlichen Machtgewinns und Machterhalts. So wie sie die Positionen und Überzeugungen der alten CDU, also deren politische Substanz, dem Koalitionspartner SPD und dem von den Grünen vorangetriebenen Zeitgeist opferte, opfert sie auch die Interessen des eigenen Landes und seiner Bürger auf dem Altar einer scheinbar höheren Moral.
Merkel sagt gerne, dass Deutschland stark sei. Das ist allenfalls vordergründig ökonomisch richtig. Nach Blick hinter die Kulissen ist aber das spätmerkelistische Deutschland auch ökonomisch nicht wirklich gerüstet für die absehbare Zukunft. Dass Deutschland ein besonders reiches Land sei, ist, wie Daniel Stelter in seinem lesenswerten Buch zeigt, ein „Märchen“.
Wie es um Deutschland Jahr 14 der Ära von Angela Merkel tatsächlich steht, offenbaren nicht deren Reden vor dem Bundestag. Das valideste Zeugnis über Merkels Deutschland stellt Ibrahim Miri aus: Der Mann, der eigentlich schon 1989 hätte abgeschoben werden sollen, nach einem Leben voller Verbrechen und Verurteilungen schließlich nach jahrelangem Prozedere mit immensen Kosten abgeschoben wurde, dann gleich wieder zurückkam und erneut abgeschoben wurde, hat verkündet, dass er trotzdem wieder nach Deutschland kommen werde. In seiner Person wird das ganze Ausmaß der Schwäche des spätmerkelistischen Deutschlands deutlich. Miri scheint zu glauben, dass er und nicht der deutsche Staat das letzte Wort haben wird.
Bezeichnend auch die Haltung gegenüber der aufkommenden Weltmacht China. Nicht einmal ein Wort der Sympathie für die demonstrierenden Hongkonger Studenten kam Merkel vor dem Bundesparteitag über die Lippen. Sie sprach nur abstrakt von „zwei Systemen“. Merkel erniedrigt ihr eigenes Land nicht nur verbal, sondern offenbart kompletten Unwillen, die Interessen seiner Bürger zu schützen. Das Ansinnen des chinesischen Telekom-Konzerns Huawei, der natürlich wie alle chinesischen Unternehmen staatlicher Einflussnahme unterliegt, das künftige deutsche 5G-Netz mit aufzubauen und zu betreiben, erfordert natürlich eigentlich eine entschlossene Ablehnung. Dass der chinesische Staat andernfalls Zugang zu einem unermesslichen Datenschatz deutscher Nutzer erlangen kann, ist offensichtlich. Doch Merkel hat deutlich gemacht, dass sie Huawei zulassen will, wenn das Unternehmen entsprechende Zusagen macht. Was die im Ernstfall wert wären, kann man sich eigentlich denken.
Doch Merkel, die vor dem Bundestag von Meinungsfreiheit spricht und zweifach Artikel Eins des Grundgesetzes zitiert, zieht offenbar ernsthaft in Erwägung, einem Unternehmen Zugriff auf die Datenströme ihrer Bürger zu ermöglichen, das seinerseits dem Zugriff der kommunistischen Herrscher in Peking ausgeliefert ist.
In diesem Fall bräuchte Deutschland keine Schutzmacht, kein Militärbündnis und keine zwei Prozent Militärausgaben, um die Interessen seiner Bürger zu schützen, sondern einfach eine Regierung, die bereit ist, politische Konfrontationen einzugehen, ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrzunehmen. Der Preis dafür wäre, dass sich die Regierung Druck aussetzen müsste, nicht nur aus China direkt, sondern vermutlich auch von einigen großen Unternehmen, für die das China-Geschäft erfolgsentscheidend ist.
Eine Bundeskanzlerin hat aber ihrem Amtseid zufolge dem „Wohl des deutschen Volkes“ zu dienen und nicht ökonomischen Einzelinteressen. Merkel und die mit ihr Regierenden sind dazu offenbar nicht willens. Signale deutscher Nachgiebigkeit zu senden, ist für sie angenehmer und birgt keine Risiken für die eigene Machtstellung, da das Bewusstsein für die eigenen nationalen Interessen hierzulande so gering ist.
Nicht nur die Herrscher in Peking, nicht nur der neue Sultan in Ankara und der Deal-Macher in Washington haben längst die unübersehbare Schwäche Deutschlands erkannt. Auch Macron dürfte endgültig realisiert haben, dass Merkels Deutschland die lahme Ente der Weltpolitik ist. Während Macron eine feste Vorstellung von französischen Interessen hat (für die ihm die EU vor allem ein Hebel zu sein scheint), wiegt Merkel weiterhin die Deutschen in ihren Träumen von „Multilateralismus“ und europäischer Einigkeit. Macron weiß, dass Merkels Deutschland kein Handelnder im anbrechenden Zeitalter der neuen Interessenkonflikte ist, sondern eher ein Traumtänzer. Darum verfolgt er seine Vision eines großen europäischen Blocks inklusive Russlands gegen China mittlerweile ohne Deutschland. Für Deutschland ist in diesem Rahmen nicht die Rolle eines Subjekts, sondern eher eines Objekts vorgesehen: Die Deutschen sollen im Rahmen der EU und der Währungsunion zahlen und bürgen. Das kann man Macron wahrlich nicht vorhalten. Merkel hat schließlich ganz offensichtlich nicht wirklich etwas dagegen – solange sie selbst noch etwas weiterregeren darf.