Tichys Einblick
Woher kommt die neue Liebe?

Die Grünen, die Wirtschaft und ein hartnäckiges Vorurteil

Die Aussicht auf eine Bundeskanzlerin Baerbock schreckt die Spitzen der Wirtschaft nicht. Über den Schmusekurs kann man sich nur wundern, wenn man glaubt, dass das Kapital den freien Markt liebt.

Annalena Baerbock mit dem damaligen Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser beim Grünen Wirtschaftskongress im Februar 2020

IMAGO / snapshot

Eine Umfrage im Auftrag der Wirtschaftswoche bringt ans Licht, dass die „Entscheider“ die Grüne Annalena Baerbock als Bundeskanzlerin bevorzugen würden. Das Meinungsforschungsinstitut Civey hat dafür „1.500 Führungskräfte aus Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung“ befragt, außerdem „Selbstständige mit mehr als zehn Mitarbeitern“. 26,5 Prozent von ihnen würden Baerbock „bei einer Direktwahl“ zur Kanzlerin wählen, nur 16,2 Prozent Christian Lindner, 14,3 Prozent Armin Laschet und 10,5 Prozent Olaf Scholz. 

Manch einer wundert sich noch immer, dass den Grünen generell und ihrer Kanzlerkandidatin Baerbock im Besonderen soviel Wohlwollen, ja, sogar Lob aus den höchsten Etagen in Deutschland ansässiger Unternehmen zuteil wird. Machen die Grünen nicht eine tendenziell „wirtschaftsfeindliche“ Politik? Bremsen sie nicht, wo sie es können, die Unternehmen mit Auflagen, Grenzwerten und Verboten im Namen des Klimaschutzes aus? Müsste „die Wirtschaft“ nicht Sturm laufen gegen ein Wahlprogramm voller Marktskepsis, ja, teilweise sogar offener Marktablehnung?

Es gibt dafür zunächst naheliegende Erklärungen. Die banalste: Mit einer möglicherweise künftigen Kanzlerin(nenpartei) will es sich ein Unternehmen oder Branchenverband eben nicht verderben. Aber das reicht natürlich nicht.

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Der WiWo-Redakteur bietet als Erklärung für die Baerbock-Zuneigung der Wirtschaft an: Sie habe schließlich in einer Rede kürzlich von „Neuanfang“ und vom „Entfesseln“ gesprochen und ein Land gelobt, „in dem so viel steckt“. Sie treffe „damit wohl am ehesten den Nerv von Führungskräften, die den pandemischen Offenbarungseid an vielen Stellen nicht mehr hinnehmen wollen und die sich nach 16 Jahren Angela Merkel tatsächlich nach jemandem sehnen, der glaubhaft Aufbruch verkörpert.“

Dass ein Wirtschaftsjournalist die Zuneigung der Manager zu einer Grünen-Politikerin nicht mit harten Fakten, Positionen und Interessen begründet, sondern mit Phrasen wie „Aufbruch“, ist selbst Teil der Erklärung. Die Grünen sind eine Post-Interessenpartei der guten Gefühle. Im Gegensatz zu den Parteien des 19. und 20. Jahrhunderts vertreten sie nicht die harten ökonomischen Interessen bestimmter sozialer Schichten, zumindest nicht laut und direkt. Sie versprechen nicht mehr Wohlstand, sondern bessere Gefühle. Als Wähler muss man sich das natürlich leisten können. Der Aufstieg der Grünen in der Nachkriegsgeschichte ist nur zu erklären als Folge der scheinbaren Selbstverständlichkeit von Wohlstand.

Man kann Vielflieger und SUV-Fahrer sein, also einen enorm überdurchschnittlichen ökologischen Fußabdruck haben – und trotzdem, nein, vermutlich sogar gerade deswegen grün wählen und von Annalena Baerbocks Klimaschutzforderungen begeistert sein. Grün zu wählen erfüllt vermutlich für nicht wenige Menschen eine ähnliche Funktion wie die Zahlung von CO2-Kompensationen: Es beruhigt das schlechte Gewissen vieler Menschen, gerade der besonders wohlhabenden.

Und dieses schlechte Gewissen hat ja auch gute Gründe: Die ökologischen Sünden moderner Konsumgesellschaften sind real. Die Tragik der Klimaschutzpolitik ist nicht, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gibt, sondern dass ökologische Sünden, zum Beispiel der Flächenfraß, noch verheerender sind – und durch Klimaschutzmaßnahmen wie den Ausbau der Wind- und Solarenergie verschlimmert werden.

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Grün zu wählen, verschafft vielen Menschen das gute Gefühl, etwas zu tun gegen die eigenen Sünden – ohne sich dafür wirklich selbst zu geißeln. Ein Leben in Saus und Braus und noch dazu das Gefühl ein guter Mensch zu sein. Was will man mehr? Ein grün gewordener Staat, der demnächst immer mehr Verbote und Einschränkungen aussprechen wird, ist angenehmer, als sich sofort selbst einzuschränken. Dem entspricht auch der Ruf der Fridays-For-Future-Jugend: „Verbietet uns was!“ Geboten zu gehorchen, kann durchaus angenehmer sein, als sich in mündiger Freiheit selbst einzuschränken. So schließt sich dann auch ein Kreis, den die antiautoritären Großeltern 1968 mit der Parole „Es ist verboten zu verbieten!“ eröffneten. „Gute” Verbote sind eben doch nicht verboten. 

Der grünenfreundliche Opportunismus der Wirtschaft (wobei die Faustregel gilt: Je größer und damit öffentlich sichtbarer das Unternehmen, desto größer der politische Opportunismus) ist aber nicht nur oberflächlich und auch nicht nur durch den Gefühlshaushalt entfremdeter und entgrenzter Wohlstandsprivilegienbesitzer zu erklären.

Wer erwartete, dass Siemens, Daimler und die Deutsche Bank doch der marktskeptischen bis offen marktfeindlichen Agenda der Grünen, wenn schon nicht öffentlich, so doch zumindest unter der Hand entgegentreten müssten, erliegt womöglich einem hartnäckigen Vorurteil.

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Gemeint ist das Vorurteil, dass Konzerne oder gar „das Kapital“ den Markt liebten. Die Eigentümer von Kapital begehren die Vermehrung des Kapitals oder zumindest dessen Erhalt – auf welchem Weg auch immer. Im 19. und 20. Jahrhundert war diese Kapitalvermehrung am effektivsten in wenig reglementierten Märkten freiheitlicher Staaten möglich. Aus historischer Erfahrung mit dem Kommunismus, wie er zwischen 1917 und 1989 wütete, stellen viele sich eben noch immer die Feinde der freien Marktwirtschaft als identisch mit Feinden des Kapitals vor. Diese Konfliktgeschichte, die das 20. Jahrhundert prägte, vernebelt heute nur die Erkenntnis, dass ein freier Wettbewerb womöglich längst nicht mehr die attraktivste Kapitalvermehrungsoption ist. Unter der Bedingung sinkender Wachstumsmöglichkeiten, angesichts absehbarer ökologischer und demographischer Schranken und nach den Krisenerfahrungen mit deregulierten Märkten (zuletzt in der Finanzkrise 2008ff) tut sich eine unwiderstehliche Verlockung für jedes Management und auch für Aktionäre auf: ein Staat, der mit dem Argument ökologischer Alternativlosigkeit oder anderen moralischer Notwendigkeiten den Markt zum Vorteil des eigenen Unternehmens beschränkt oder gar abschafft, und damit das Risiko.

„Der Zug der Geschichte“, schreibt Markus Vahlefeld, „rast auf ein System zu, das Kommunismus und Kapitalismus in ein harmonisches Zusammenspiel zu bringen scheint. Unter die Räder ist dabei nur die Freiheit gekommen. Staat und Kapitalismus haben sich genauso versöhnt wie Sozialismus und Privateigentum.“

Der Historiker David Engels hat kürzlich den schönen Begriff des „Milliardärssozialismus“ geprägt, mit dem er eine Gesellschaft des vollendeten Globalismus bezeichnet, in dem eine kleine Vermögenselite einer eigentumsarmen und so gut wie machtlosen Masse von Weltbürgern gegenübersteht. Einen anderen treffenden Begriff hat 2018 der New York Times Kolumnist Ross Douthat gefunden: „Woke Capitalism“. Zunächst waren es vor allem neue Konzerne wie Google (bzw. Alphabet) oder Amazon, die in ihrer Werbung und vor allem in ihrer internen Kommunikation immer offener ein Welt- und Menschenbild propagierten, das man in den USA „liberal“ nennen würde, und in Deutschland ganz und gar der politischen Agenda der Grünen entspricht.

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Kein politischer Kopf der Grünen steht für dieses harmonische Zusammenspiel von Staat und Kapital, ungeheuerlichem Reichtum und höchstem moralischem Anspruch der Weltverbesserung so sehr wie die frisch gekürte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die 2020 vom Weltwirtschaftsforum zum „Young Global Leader“ gekürt wurde. Man sollte übrigens in diesen Club der größten Konzerne nichts Verschwörerisches hinein raunen, es findet ja schließlich alles öffentlich statt. Es ist auch kein Geheimnis, dass 1992 eine gewisse Angela Merkel in Davos in die Liste der damals noch so genannten „Global Leaders for Tomorrow“ aufgenommen wurde.

Wie lange dieses Bündnis der großen Moral und des großen Geldes so harmonisch bleibt, ist offen. Es gibt zahlreiche potentielle Konfliktherde zwischen beiden. Wenn zum Beispiel der wachsende Hass auf Vermieter, der von der radikalen Linken längst auf weite Teile der Grünen übergegriffen hat, sich in einer Bundesmietpreisbremse oder gar Enteignungen entladen sollte, wird es mit der Grünen-Sympathie der Finanzwirtschaft schnell vorbei sein. Für die Automobilwirtschaft, die sich nun mit der Aussicht auf Elektrifizierung arrangiert zu haben scheint, dürfte die China-Politik einer künftigen grünen Bundesregierung entscheidend sein. Wenn Baerbock gegen Peking so hart handelt, wie sie es heute einfordert, werden die vom chinesischen Absatzmarkt und Produktionsstandort abhängigen deutschen Hersteller Sturm laufen. Vielleicht genügt aber auch schon der erste größere Stromausfall nach dem endgültigen Aus von Kohle- und Kernkraft, um die Liebe der Industrie zu den Grünen erkalten zu lassen.

Noch ist jedenfalls nicht eindeutig zu sagen, ob Annalena Baerbocks Grüne und Co nur naive „Büttel des Kapitals“ sind, wie viele Altlinke zunehmend raunen, oder ob die neuen Woke-Kapitalisten von Davos nun doch so blöd sind, wie Lenin einst behauptete, als er prophezeite: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen“.

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