Die guten Zeiten der Deutschen sind vorbei, sagte der Ökonom Hans-Werner Sinn kürzlich in einem Interview, „nicht nur für die nächsten 15 Jahre, sondern für eine längere Periode“. Sinn spricht davon, dass „uns die Grünen die billige Energie … abstellen wollen“, und von den desolaten demographischen Aussichten – und natürlich von der Inflation, über die er auch sein jüngstes Buch verfasst hat. Der Staat werde „heillos überfordert“ sein und die sozialen Sicherungssysteme nicht mehr in der Lage, „die Entwicklung des Lebensstandards so fortzuführen, wie wir es gewohnt sind“. Den Bürgern rät er: „Sorgt für euch selber!“ Und: „Der Zusammenhält in der Familie wird angesichts der Schwierigkeiten des Staates immer wichtiger werden.“
Ökonomischer Pessimismus ist nun nicht mehr nur ein Thema von Doom- und Crash-Propheten, auf die sich selbst für seriös haltende Ökonomen und vor allem Wirtschaftsjournalisten stets naserümpfend herabblickten. Verarmung ist kein dystopisches Szenario mehr, sondern durch die Inflation gegenwärtige Wirklichkeit: 7,3 Prozent im März gegenüber dem Vorjahresmonat, meldet das Statistische Bundesamt. Und die Bundesregierung erwartet nun, wie am Montag bekannt wurde, im laufenden Jahr eine durchschnittliche Inflation von 6,1 Prozent und, wie Robert Habeck am Mittwoch bekannt gegeben hat, nur noch 2,2 Prozent BIP-Wachstum.
Die Erwartung der Bundesregierung von nur 2,8 Prozent Inflation für 2023 kann man als Fortsetzung der immer wieder auch von der EZB verbreiteten Wunschträumerei abhaken: Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat immer wieder von einem nur „vorübergehenden“ Preisauftrieb gesprochen. Zum Beispiel im September 2021 und dann wieder im November. Natürlich konnte niemand den Ukraine-Krieg vorhersehen. Aber er ist eben bei Weitem nicht der einzige Grund. Auch die Energiepreise, als wichtigster Inflationstreiber, steigen nicht erst seit dem 24. Februar steil an, sondern schon seit Anfang 2021 und dann mit besonderer Intensität seit dem Jahresanfang 2022.
Zur Antwort auf die Frage, warum bis jetzt weder die Regierenden in Berlin noch die EZB in Frankfurt ernsthaft gegen die Inflation aktiv werden, gehört auch der Mangel an entsprechendem Druck aus der Öffentlichkeit. Vor Inflation zu warnen, galt bis vor kurzem noch als sehr unfein – bisweilen auch jetzt noch. Die EZB mit ihrer lockeren Geldpolitik und die Regierenden in Berlin mit ihrer preistreibenden Ausgabenpolitik konnten sich wie auf anderen Politikfeldern auf eine weitgehend unkritische, EZB-freundliche Presse verlassen. Zu den bekanntesten Exponenten der jahrelangen Inflationsverharmlosung gehören etwa der Spiegel-Kolumnist Thomas Fricke, der konsequent die laxe Geldpolitik rechtfertigte und gegen „Stabilitätswächter und Bundesbank-Nostalgiker“ polemisiert, und nicht zuletzt Mark Schieritz, Wirtschaftskorrespondent der Zeit. Er wetterte in unzähligen Artikeln und einem Buch über „Die Inflationslüge“ (2013). Nicht die Inflation sei eine Gefahr, so die These, sondern eine falsche, restriktive Politik, die auf dieser Angst gründe.
Schieritz kann mittlerweile wohl beruhigt sein. Vor der Inflation warnen muss niemand mehr, und die aus seiner Sicht falsche Antiinflationspolitik gab und gibt es bekanntlich bis heute nicht: weder eine echte Sparpolitik der Regierenden noch eine Restriktion der Geldvermehrung durch Anhebung der Zentralbankzinsen – zumindest nicht durch die EZB.
Wer nach einem Einkauf nicht in Kummer angesichts der extrem gestiegenen Preise versinken will, kann durch die Lektüre alter Schieritz-Artikel dann vielleicht Trost finden – oder sarkastische Erheiterung. „Fürchtet euch nicht!“, schrieb Schieritz den Zeit-Lesern noch im August 2021, als der Preisanstieg bereits deutlich wurde, und: „Die steigenden Teuerungsraten sind ein Indiz dafür, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt und die staatlichen Hilfsmaßnahmen zurückgenommen werden. Wir sollten uns darüber freuen.“ Darin findet sich auch das Argument, es sei gar nicht klar, dass die ärmeren Menschen überhaupt besonders unter der Inflation litten. Schließlich hätten sie „oft überhaupt kein Geld, das sie vor irgend jemandem in Sicherheit bringen könnten“, und außerdem profitierten sie von den niedrigen Zinsen, „weil sie zum Beispiel ihr Auto günstiger finanzieren können“. Im Dezember 2021 dann nochmal ein Versuch: „Die Inflation könnte bald wieder sinken.“
In den letzten Tagen twittert Schieritz nun erstaunlich viel über Panzer und die Ukraine – und erstaunlich wenig über sein Fachgebiet, die Inflation. Die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes waren ihm keinen Tweet wert. Immerhin, in seiner Kolumne vom 1. April nennt er die Inflation „ein Problem“. Aber: „Das bedeutet nicht, dass es sinnvoll wäre, jetzt Ausgaben zusammenzustreichen und die Zinsen schnell zu erhöhen.“ Das würde zwar die Teuerungsrate zurückführen, aber wäre „mit einer schweren Rezession erkauft“. Seine Tipps dagegen dürften der Bundesregierung und vor allem den Grünen gut gefallen: „Energieeinsparungen zum Beispiel durch ein Tempolimit. Gezielte Entlastungen für die Betriebe und Haushalte, die sonst nicht über die Runden kommen. Staatliche Hilfsmaßnahmen wie das Kurzarbeitergeld, die Arbeitsplätze sichern, bis der Krieg vorbei ist beziehungsweise bis alternative Energiequellen erschlossen sind. Eine Steuerpolitik, die für eine gerechte Finanzierung der notwendigen Ausgaben sorgt.“ Noch mehr Staatsinterventionen als Antwort für ein Problem, das durch exzessive Staatsinterventionen entstanden ist: Solche Journalisten-Ratschläge liest man in Berliner Regierungskreisen sicher gerne.
Für die Fürchtet-Euch-Nicht-Propheten in der Presse und die die Inflation für „nur vorübergehend“ haltende EZB-Präsidentin hat die Suche nach dem persönlichen Ausweg vermutlich schon begonnen. Einfach über andere Themen schreiben – zum Beispiel Panzerlieferungen an die Ukraine – bietet sich zum Beispiel an, um alte Prophezeiungen vergessen zu machen. Für Lagarde könnte vielleicht sogar ein besonders schöner Ausstieg aus dem Thema möglich werden. Sie, die ohnehin eher eine geldpolitische Seiteneinsteigerin war, wird als mögliche Premierministerin für den wiedergewählten Präsidenten Emmanuel Macron in Frankreich gehandelt.