Die Dramatik der ökonomischen Lage wird auch in den Aussagen der Bundesregierung immer deutlicher. Üblicherweise neigen Regierungspolitiker zur Beschwichtigung, wenn es um erwartbare ökonomische Krisen geht. Umso besorgniserregender ist es, wenn der Bundesfinanzminister jetzt von der „Gefahr einer sehr ernst zu nehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferketten-Probleme, aufgrund auch der Inflation“ spricht.
Noch konkreter besorgniserregend ist eine andere Nachricht: Wirtschaftsminister Robert Habeck wird am 8. Juli die „Alarmstufe“ des nationalen „Notfallplans Gas“ ausrufen, wie die FAZ berichtet. Er habe das am Mittwoch früh im Energieausschuss des Bundestags angekündigt, wie Teilnehmer bestätigten. Das Datum sei gewählt worden, weil an jenem Freitag der Bundesrat tagt und damit zwei neue, für die Alarmstufe grundlegende Gesetze in Kraft treten können, das Energiesicherungsgesetz und das Ersatzkraftwerkebereitstellungsgesetz. Wie die Welt berichtet, hatte Habecks Staatssekretär Patrick Graichen die Mitglieder des Vorstands des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) schon darüber informiert, dass diese Ausrufung innerhalb weniger Tage bevorstehe.
Diese zweite von drei Stufen dürfte Erdgas für alle Verbraucher noch teurer machen, als es ohnehin schon ist. Die jüngsten Aussagen von Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, offenbaren den Ernst der Lage: „Die Reduzierung der Gaslieferungen durch Nord Stream 1 um 60 Prozentpunkte ist dramatisch“, sagte er am Dienstagmittag bei einer Diskussionsrunde auf der Energiemesse E-World in Essen. „Ich bin dankbar für jeden Vorschlag, wie wir den Gasverbrauch im nächsten Winter herunterkriegen. Stand heute haben wir ein Problem.“
Die „Alarmstufe“ bedeutet letztlich die Rückkehr einer Wirtschaftsweise, wie sie Westdeutschland seit 1948 nicht mehr kennt, nämlich die Aussetzung des Marktes zugunsten einer staatlich organisierten Zuteilung einer Produktionsressource. Die Bundesnetzagentur wird also wohl in wenigen Tagen gemäß dem Plan (dessen gültige Fassung von 2019 stammt, also älter als die amtierende Bundesregierung und der Ukraine-Krieg ist) als „Bundeslastverteiler“ den einzelnen Industrien und Kundengruppen nach Relevanz und Bedürftigkeit Gas zuteilen. Weil Privatverbraucher als „besonders geschützte Kunden“ gelten, würde dies zunächst die Industrie treffen. Das heißt nichts anderes als ein unmittelbarer Angebotsschock durch eine Mangelwirtschaft.
Gas würde also bis auf weiteres zwar weiter in die Heizungen der Privathaushalte fließen, allerdings zu noch einmal erhöhten Preisen. Denn die letzte Novelle des Energiesicherungsgesetzes vom Mai 2022 erlaubt es den Versorgern, ihre gestiegenen Einkaufspreise an die Kunden weiterzugeben. Dann wird eine Stagflation, also die Kombination von stagnierender, wahrscheinlich sogar rückläufiger Konjunktur und starker Inflation fast die sichere Folge sein.
Angesichts dieser Aussicht auf eine Art von Mega-Krise, in der sich die durch ein Jahrzehnt der Niedrigzinspolitik aufgestaute Euro-Schulden-Krise, die gescheiterte Energiewende und die ökonomischen Auswirkungen des Ukraine-Krieges gegenseitig verstärken, scheinen schon jetzt manche bislang scheinbar in Stein gemeißelte Gebote der deutschen politischen Klasse zu zerbröckeln. Der Kohle-Ausstieg ist de facto auf Eis gelegt. Diesen „Tabubruch“ hat der grüne Wirtschafts- und Klimaminister Habeck schon begangen.
Die Forderung nach einem Weiterbetrieb der Kernkraftwerke kommt nun nicht mehr nur aus der oppositionellen CDU. Lindner erhebt sie auch. Bislang saß seine FDP in der Ampel-Koalition in aller Regel am kürzeren Hebel. Doch dieser Hebel wird aller Voraussicht nach immer länger werden, je größer der Leidensdruck in Wirtschaft und Bevölkerung wird. „Es darf jetzt keine Denktabus geben, wenn es darum geht, die Preisentwicklung für die Menschen zu kontrollieren“, sagte Lindner und brachte sogar schon den dritten Tabubruch für seine grünen Mitregierenden ins Spiel: heimisches Gas und Ölvorkommen nutzen. Dass es dafür erhebliche Möglichkeiten gibt, könnte sich in den kommenden Monaten durchaus noch herumsprechen.