Tichys Einblick
Der Kohlewiedereinstieg

Früher Windräder gebaut – jetzt Kohlekraftwerker

Abrupte Kehrtwende bei der Energiewende: Frühere Beschäftigte der abgewickelten Windradindustrie finden neue Beschäftigung in den Kohlekraftwerken der Lausitz, die wieder angefeuert werden. Die Realität frisst die Illusion – und Steuerzahler wie Stromkunden und Wirtschaft zahlen dafür.

Screenprint LEAG

Die „Sicherheitsbereitschaft“ von Braunkohlekraftwerken war ursprünglich politische Kosmetik. Niemand beabsichtigte, die so zwangsabgeschalteten Blöcke noch einmal in Betrieb zu nehmen. Nach den Purzelbäumen bei der Kernkraft kommt wider Erwarten jetzt einer bei der Kohle. Nun herrscht Erklärungsnot und die Unternehmen suchen händeringend qualifiziertes Personal.

Der Kohlewiedereinstieg

Es begab sich am 1. Juli 2015, als nach mehrstündigen Verhandlungen Sigmar Gabriel eine Entscheidung verkündete. Er amtierte damals als Bundeswirtschaftsminister und war, gemessen an der heutigen Besetzung dieser Planstelle, geradezu ein Titan an Kenntnis und Kompetenz.

Wie heute bestand damals das Oberziel deutscher Energiepolitik in der Emissionssenkung zwecks Rettung des globalen Klimas – von deutschem Boden aus. Das Thema Versorgungssicherheit wurde kaum genannt, geschweige diskutiert. Die Zahl der noch laufenden Kern- und Kohlekraftwerke war ausreichend hoch, sogenannter Überschussstrom der „Erneuerbaren“ führte zu einem hohen Exportsaldo und zunehmend zu negativen Preisen am Strommarkt.

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Ergebnis der von Gabriel geführten Verhandlungen waren Verordnungen zu Netzreserve- und Kapazitätsreservekraftwerken sowie zu einer Überführung von Braunkohlekraftwerken in eine „Sicherheitsbereitschaft“. Ursprünglich sollten diese mit einer Klimaabgabe belastet werden, die aber für viele Anlagen direkt in die Stilllegung geführt hätte. Der Widerstand von Betreibern, Gewerkschaften und aus den Kohleregionen war zu groß und man einigte sich – aus heutiger Sicht: zum Glück – auf einen politischen Kompromiss. So setzte die anlagengenau terminierte Sicherheitsbereitschaft am 1. Oktober 2016 ein, sie dauert vier Jahre, danach gelten die Anlagen als stillgelegt. Auf diese Weise haben die Blöcke in Buschhaus und Frimmersdorf bereits das Zeitliche gesegnet. Verfügbar bleiben je zwei Blöcke in Niederaußem und Jänschwalde sowie einer in Neurath.

Für den Aufruf dieser Braunkohleblöcke aus der Zwangsbereitschaft musste extra eine „Verordnung zur befristeten Ausweitung des Stromerzeugungsangebots durch Anlagen aus der Netzreserve“ geschaffen werden. Auch daran erkennt man, dass in Sachen Energiewende und unter krisenhaften Bedingungen nichts mehr von selbst läuft. Jede kleinteilige Regelung muss kleinteilig korrigiert werden. Früher hätten bei erhöhter Nachfrage Privatunternehmen und -investoren für mehr Angebot gesorgt. Heute müssen übernächtigte und ausgelaugte Menschen im Ministerium permanent neue Verordnungen und Gesetze erbrüten, was zu Burnout und Tinnitus führt.

Zum Zeitpunkt Juli 2015 war das für klimabewegte Politik und ihre begleitenden Medien kein Thema. Minister Gabriel, der Kapazitätsmärkte ablehnte, weil er kein Hartz IV für alte Kohlekraftwerke wolle, sprach von diesen Sicherheitskraftwerken als Notnagel, dem Gürtel zum Hosenträger. Oder im Klartext: Man braucht sie nicht, aber wir wollen inneren Frieden.

Grüne und Medien machten Front gegen diese Entscheidung, die die Stromkunden insgesamt etwa 1,6 Milliarden Euro gekostet haben dürfte. Oliver Krischer von der grünen Fraktionsspitze nannte die Regelung irre teuer und ziemlich nutzlos, Uralt-Kraftwerke würden nochmals vergoldet. Die Süddeutsche Zeitung schrieb damals:

„Was die Sicherheit der Stromversorgung angeht, gibt sich das Bundeswirtschaftsministerium demonstrativ gelassen. Zuletzt hatten Gutachter überprüft, ob es bis 2025 Engpässe geben könnte, Ergebnis: keine Gefahr.“

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Vermutlich waren es die gleichen Gutachter, die heute ein paar Stunden Unterdeckung im Stromnetz als nicht problematisch bezeichnen. „Lausitzer Wirtschaft braucht Kohle nicht mehr“, titelte ein Kommentar in der Lausitzer Rundschau noch am 3. Februar 2021. Inzwischen brauchen nicht nur die Lausitz, sondern ganz Deutschland und über den europäischen Verbund ganz Europa den Kohlestrom aus der Lausitz. Es war keine gute Idee abzuschalten, ohne Vergleichbares einzuschalten. Die Braunkohleblöcke aus der „Sicherheitsbereitschaft“ laufen nun wieder, Steinkohlekraftwerke wurden über das Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz (EKBG) reaktiviert.

Das hätte niemand der Beteiligten für möglich gehalten. Der inbrünstige Glaube an sicheren Wind- und Sonnenstrom hatte den Entscheidern den Blick auf die Realitäten verstellt. Die nun wieder steigenden Emissionen werden vor lauter Scham nicht thematisiert. Was wird das Bundesverfassungsgericht dazu sagen, wenn die Emissionsziele 2030 nicht erreicht werden? Zudem werden Strafzahlungen an die EU unvermeidlich sein.

Raus und rein

Die Reaktivierung der Kraftwerksblöcke traf die Unternehmen hart. Trotz Bereitschaftsgeld hatte man kräftig Personal abgebaut und den herumstehenden Blöcken schon einige Ersatzteile entnommen. 10.000 Euro extra bietet LEAG für Interessenten mit einem gültigen Triebfahrzeugführerschein, also für sofort einsetzbare Lokführer für die Kohlezüge. Senioren werden umworben, wieder einzusteigen.

War man in den 1990- und 2000-er Jahren froh, Personalabbau sozialverträglich gestalten und Personal aus dem sogenannten Überhang auch bei den „Erneuerbaren“ unterbringen zu können, setzt nun in Teilen eine Gegenbewegung ein. Mitarbeiter aus der insolventen Rotorblattfertigung von Vestas in Lauchhammer, zum Teil früher in Kraftwerken ausgebildet, kehren zurück zu den Fossilen. Der Traum vom grünen Jobwunder ist allerdings schon länger ausgeträumt. Auch aus Rostock gibt es keine Flügel mehr, keine Stahltürme mehr aus Fürstenwalde und Magdeburg, keine Spezialgussteile mehr aus Rheinland-Pfalz. Die Produktionskosten sind vor allem auf Grund der Energiepreise zu hoch. Der eisige Hauch der Windkraftrevolution frisst seine Kinder.

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Die regierungsbegleitenden Medien halten sich sehr bedeckt. Wurde früher einheitlich eingeschätzt, dass diese Reserve nicht nötig sei, schweigt man sich jetzt peinlich berührt aus. Während sich erregte Diskussionen um Erdgas, Kohle und Kernkraft drehen, bleibt eine offensichtliche Tatsache ungenannt: das völlige Versagen der enormen Kapazitäten installierter Leistung an Wind- und Solarenergieanlagen. Mehr als 120 Gigawatt (GW) installierte (und gefeierte) Leistung stehen im Land, bei einer Maximallast im Netz von etwa 80 GW. Trotzdem reicht es nicht. Versorgung muss in Echtzeit funktionieren, da spielen Jahresdurchschnittsproduktionen keine Rolle.

Im September betrug die minimale Leistung aus der Windkraft ganze 0,66 GW, was einem eher kleinen Kohlekraftwerk entspricht. Das waren 0,76 Prozent der installierten Leistung. Ein Armutszeugnis für fast 30.000 Anlagen, von denen es nach marktwirtschaftlichen Regeln nur wenige geben würde. Die Formulierung der „minimalen Mehrproduktion“, die Habeck den drei noch laufenden Kernkraftwerken zuschrieb, wäre hier treffender.

RWE sucht indessen sein Heil in der Flucht, was zum nächsten Purzelbaum führt. Nach Absprachen mit Land und Bund gehen zwei Blöcke wieder in Betrieb, um Gas zu sparen. Dann wird der Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen und Gas soll eingesetzt werden, um Kohle zu sparen. Dafür werden wohl 20 Gaskraftwerke nötig sein, die dann bald (!) mit Wasserstoff betrieben würden. RWE passt nichts besser ins Konzept als der Rückzug aus Deutschland. Milliardenschwere Investitionen in die US-Solarwirtschaft sind lohnender und verlässlicher, als sich den Unwägbarkeiten erratischer deutscher Energiepolitik zu unterwerfen. Der Rückzug kann auch schneller gehen, wenn die Verteidiger des schon leergezogenen Ortes Lützerath gegen RWE, Land und Bund obsiegen. Lützerath wird das neue Gorleben.

Gesetze, Sanktionen und Extremisten

Unterdessen verstößt das Ministerium für Wirtschaft und Klima (MWK) gegen selbst verfasste Gesetze. Nach Kohleausstiegsgesetz Paragraf 54 hätte schon im August ein erster Zwischenbericht zum Kohleausstieg vorgelegt werden müssen. Nun ist er ohne Termin verschoben worden. Aus Sicht der Beamten kann ich das nachvollziehen. Hätten sie tatsächlich aufschreiben dürfen, dass der Kohleausstieg bis dato gescheitert ist und nicht funktionieren wird? Die logische Folge wäre, das Gesetz schlicht zurückzuziehen. Auch hier verhindert Ideologie die Realitätswahrnehmung.

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Trotz angespannter Energielage wollen die ampeldominanten Grünen zum Jahresende auch den Schieber an der Ölleitung „Drushba“ in Schwedt schließen. Das schränkt den Betrieb der Raffinerie PCK in Schwedt stark ein und damit die Treibstoffversorgung in Berlin, Brandenburg und Westpolen. Die Annahme, den russischen Bären durch weitere Selbstbeschränkung erwürgen zu können, wird auch hier scheitern. Es ist wieder eine national isolierte Aktion zu unserem Nachteil und sie ist nicht erforderlich. Öl aus der Pipeline ist von den EU-Sanktionen ausgenommen.

Andere EU-Länder gehen pragmatisch und rücksichtsvoll gegenüber ihrer eigenen Wirtschaft vor. Spanien und Frankreich importieren derzeit Rekordmengen an LNG aus Russland, Griechenland verschifft mit seinen Tankern russisches Öl in alle Welt und selbst die Amerikaner arbeiten mit den Russen auf der Raumstation ISS weiter zusammen. Ebenso ist russischer Kernbrennstoff nicht von Sanktionen betroffen und wird weiter in die EU geliefert. Diese nicht nötige Öl-Blockade wird in besonderer Weise auf uns zurückschlagen.

Die absehbar schwierigere Lage der Energieversorgung hält Klimaextremisten allerdings nicht davon ab, tätlich gegen die Pipelines und gegen Kohlekraftwerke vorzugehen. Das mediale Echo hält sich in Grenzen, die Bezeichnung der Extremisten als Aktivisten macht die geistige Nähe der Branche deutlich. Noch immer sitzen vier Personen in U-Haft, weil sie ihre Identität nicht angeben. Angaben machten sie allerdings zu ihrer Unzufriedenheit mit dem Knast-Essen, wo der vegane Anteil als zu gering empfunden wird.

Die Kohleregionen sollen entschädigt und weiter in ihrem Strukturwandel unterstützt werden. Viele Millionen Euro fließen beispielsweise in den barrierefreien Umbau des Hauses des Sports in Cottbus, in einen Ausstellungsneubau an der Festung Senftenberg und in das städtische Klinikum in Görlitz. Desweiteren werden das Textilmuseum in Forst bedacht, der Bahnhofsumbau in Königs Wusterhausen im Berliner Speckgürtel und mit der „Wilden Möhre“ sogar der Veranstalter eines Rockkonzerts. Der Bau des ICE-Instandhaltungswerks in Cottbus nimmt Gestalt an, einen ICE-Haltepunkt wird es aber nicht geben und bis mindestens 2027 bleibt die Bahnlinie von Berlin in Teilen eingleisig.

Solaranlagen
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Da die Strukturfördermittel nicht inflationsbereinigt ausgereicht werden, sollte das Geld aber so schnell wie möglich ausgegeben werden. Der Wandel wird kommen, ob er zukunftsfähige Struktur hat, wird sich zeigen. Für das ganze Land steht die Frage, eine Formulierung von Klaus-Rüdiger Mai nutzend, ob wir zum klimaneutralen Industrieland werden oder eher zum industrieneutralen Klimaland.

Unter Abwesenheit jeglicher Fehlerkultur halten Grüne, SPD und FDP trotz multipler Krise am Koalitionsvertrag, mithin am Kohleausstieg bis 2030 fest. In Fortsetzung jahrelanger energiestrategischer Fehlentscheidungen mehrerer von den Grünen getriebener Regierungen Merkel verschärft die Ampelregierung den Weg n die Krise. Lobbyisten haben den Weg in den Staatsapparat geschafft und setzen nun ihre Vorstellungen um.

Voller Entsetzen müssen sie nun situative Korrekturen dulden, so ein Machtwörtchen des Kanzlers für einen lächerlich kurzen Weiterbetrieb dreier Kernkraftwerke und die befristete Reaktivierung von Stein- und Braunkohlekraftwerken.

Die Freiheitsenergie

Dabei zeigt sich die Fehlinterpretation des Begriffs der „Freiheitsenergie“ (© Christian Lindner). Freiheit bezüglich Energie bedeutet jedenfalls nicht die Abhängigkeit von Wetter und Tageszeit, auch nicht die von Polysilizium und seltenen Erden aus China sowie Wasserstoff aus Nordafrika oder dem Orient. Das ist nur der Wechsel zu neuen Abhängigkeiten.

Dabei nutzen wir gerade eine Quelle unabhängiger Energie: die deutsche Braunkohle. Sie ist unabhängig von Weltmarktpreisen, nicht sanktionierbar, ausreichend verfügbar und preislich kalkulierbar. Wer jetzt „Klimakiller“ ruft, sollte bedenken, dass amerikanisches LNG unter Betrachtung der Vorkette das Niveau der Braunkohleemissionen erreicht. Moderne Kohletechnologie mit dem Einsatz von Trockenkohle, 700-Grad-Dampftemperatur und CO2-Abscheidung könnten auch die Braunkohleverstromung „klimafreundlicher“ machen.

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Allerdings werden seit vielen Jahren alle energietechnologischen Fortschritte verhindert, die den exzessiven Ausbau an Wind- und Solaranlagen gefährden könnten. Stattdessen organisiert man durch Abschaltpolitik Energiemangel und beschwert sich über mangelnde Verfügbarkeit französischer Kernkraftwerke, während man die eigenen abschaltet. Das wird einer EU-Energiesolidarität, deren Vorhandensein sich erst noch zeigen muss, beträchtlich schaden.

Nach den Purzelbäumen bei der Kernkraft gibt es nun einen bei der Kohle. „Vorwärts Genossen, es geht zurück“ hieß es im DDR-Volk, wenn Staatspläne und Wirklichkeit nicht harmonierten. Inzwischen zeigen die Wiederinbetriebnahmen von Kohlekraftwerken und die Verlängerung der Laufzeit der verbliebenen Kernkraftwerke bis in das Jahr 2023 hinein am Strom- und Gasmarkt Wirkung. Die Preise im Großhandel fallen. Der kommende Winter, für den sich unser Wirtschaftsminister milde Temperaturen erhofft, wird wohl nicht den befürchteten akuten Mangel bringen.

Die schlechte Nachricht ist, dass der Ausstieg vom Ausstieg nicht von Dauer ist. Im nächsten Jahr zu gleicher Jahreszeit werden wir deutlich schlechter gestellt sein. Die Gasspeicher werden vermutlich nicht voll sein, Kernkraftwerke werden nicht mehr zur Verfügung stehen, die Braunkohlekraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft auch nicht mehr und die Netzreservekraftwerke sind größtenteils gasbasiert. Ebenso drei der vier sogenannten „besonderen netztechnischen Betriebsmittel“, also der Gasturbinenkraftwerke, die direkt den Netzbetreibern unterstehen und deshalb nicht „Kraftwerke“ heißen dürfen.

Die Regierung wird weiter durch situatives Handeln kleinteilig administrieren, dabei müssten die Weichen grundsätzlich neu gestellt werden. Das Ziel muss ein belastbarer Energiemix sein, der mittel- und langfristig trägt. Derzeit verursacht die Regierung Schaden durch Unterlassung.

In Deutschland liegen Genialität und Wahnsinn dicht beieinander, sagte ein ausländischer Politiker. Die national angelegte Energiewende ist eine spezielle Art deutschen Größenwahns. Sie beruht auf zwei Säulen. Es sind nicht Wind und Sonne, sondern Glaube und Hoffnung.

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