Nun wird öffentlich mal wieder über die nachlassenden Rechtschreibleistungen unserer Kinder lamentiert. Zu Recht! Aber dem verworrenen Bündel an Ursachen für das Schreibdesaster nähert man sich – wenn überhaupt – nur mit spitzen Fingern. Denn nach deren realem oder gar nur epigonalem Marsch durch die Institutionen wollen es zu viele „Bildungs“-Politiker und „Bildungs“-Forscher nicht so genau wissen, was die Hintergründe sind. Ja, es hat eine Menge mit den 1968ern und den aus ihnen hervorgegangenen pseudo-soziologischen und pseudo-pädagogischen Discountprofessuren zu tun. Schlechtschreibung ist keine Reform.
„Herrschaftsinstrument“ Rechtschreibung
1968: Damals erklärte man die Rechtschreibung zum „Herrschaftsinstrument“, das es im Interesse der Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft zu zertrümmern gelte. Ganz gefangen in der Denke dieser Leute, wurden – in manchen deutschen Ländern radikaler, in anderen verhaltender – Diktate und Noten für die Rechtschreibung abgeschafft. Der Wortschatz, den ein Zehnjähriger aktiv beherrschen sollte, wurde von 1.100 auf 700 Wörter reduziert. Statt sie zusammenhängende Sätze basteln zu lassen, werden den Kindern heute bis in höhere Klassen „Lernstandtests“ abverlangt, in denen sie nur noch Textlücken zustöpseln bzw. richtige/falsche Antworten ankreuzen müssen. Der Deutschunterricht wurde in der Grundschule zulasten eines völlig nutz- und erfolglosen „Frühenglisch“ verkürzt. Selbst in höheren Jahrgangsstufen der Gymnasien gibt es pro Schulwoche oft nur noch drei Stunden Deutsch. Reform? Schlechtschreibung.
Müssen wir uns da wundern, wenn das junge Volk „erkannt“ hat, dass Rechtschreibung etwas Beliebiges ist und dass man ganz individuell „kreativ“ schreiben darf? Von der Sprachbarbarei, die über die nur noch rudimentäre Sprache der SMSer, WhatsApper und Twitterer auf uns und unsere Kinder herunterprasselt, ganz zu schweigen. Schlechtschreibung.
Form und Inhalt
Wolfgang Steinig hat soeben die Ergebnisse einer interessanten Umfrage vorgelegt (Titel: „Grundschulkulturen: Pädagogik – Didaktik – Politik“). Er hatte im Frühjahr 2015 eine bundesweite Umfrage an Grundschulen gestartet. Eine der erschreckendsten Erkenntnisse: Nur ein knappes Drittel (31 Prozent) der Grundschulen gibt an, dass man dort relativ viel Wert auf Rechtschreibung lege. Steinig berichtet ferner davon, dass ein lockerer Umgang zwischen Lehrern und Schülern mit schwachen Rechtschreibleistungen korreliere bzw. dass die Rechtschreibleistung umso besser sei, je förmlicher der Umgang zwischen Lehrern und Schülern sei. Auf die Form kommt es an, offenbar sogar im Pädagogischen!
Das habt Ihr nun davon, liebe Reformer. Generationen von Schülern habt Ihr als Versuchskaninchen missbraucht und ins Schlechtschreib-Nirwana geführt. Vor allem aber habt Ihr als wahrhaft große Klassenkämpfer damit gerade die Kinder aus sozial schwächeren Schichten in deren Herkunftsmilieus eingesperrt. Tolle Reform. Wenn Ihr wenigstens einen Rest an lernpsychologischem Verstand gehabt hättet, dann hättet Ihr gewusst: In allen menschlichen Bereichen ist es ist leichter, etwas gleich richtig zu lernen, anstatt es erst falsch zu lernen und dann umlernen zu müssen.
Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.