Tichys Einblick
Schlechter geht immer

Wenn Schlechtschreibung – pädagogisch verbrämt – zur Reform geadelt wird

Generationen von Schülern habt ihr Reformer als Versuchskaninchen missbraucht und ins Nirwana Schlechtschreibung geführt. Vor allem aber habt ihr Klassenkämpfer so die Kinder aus sozial schwächeren Schichten in deren Herkunftsmilieus eingesperrt.

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Nun wird öffentlich mal wieder über die nachlassenden Rechtschreibleistungen unserer Kinder lamentiert. Zu Recht! Aber dem verworrenen Bündel an Ursachen für das Schreibdesaster nähert man sich – wenn überhaupt – nur mit spitzen Fingern. Denn nach deren realem oder gar nur epigonalem Marsch durch die Institutionen wollen es zu viele „Bildungs“-Politiker und „Bildungs“-Forscher nicht so genau wissen, was die Hintergründe sind. Ja, es hat eine Menge mit den 1968ern und den aus ihnen hervorgegangenen pseudo-soziologischen und pseudo-pädagogischen Discountprofessuren zu tun. Schlechtschreibung ist keine Reform.

„Herrschaftsinstrument“ Rechtschreibung

1968: Damals erklärte man die Rechtschreibung zum „Herrschaftsinstrument“, das es im Interesse der Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft zu zertrümmern gelte. Ganz gefangen in der Denke dieser Leute, wurden – in manchen deutschen Ländern radikaler, in anderen verhaltender – Diktate und Noten für die Rechtschreibung abgeschafft. Der Wortschatz, den ein Zehnjähriger aktiv beherrschen sollte, wurde von 1.100 auf 700 Wörter reduziert. Statt sie zusammenhängende Sätze basteln zu lassen, werden den Kindern heute bis in höhere Klassen „Lernstandtests“ abverlangt, in denen sie nur noch Textlücken zustöpseln bzw. richtige/falsche Antworten ankreuzen müssen. Der Deutschunterricht wurde in der Grundschule zulasten eines völlig nutz- und erfolglosen „Frühenglisch“ verkürzt. Selbst in höheren Jahrgangsstufen der Gymnasien gibt es pro Schulwoche oft nur noch drei Stunden Deutsch. Reform? Schlechtschreibung.

Herles fällt auf
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Mit den größten Flurschaden hat die Methode „Schreiben nach Gehör“ (verklausuliert: „phonetische Schreibung“) angerichtet. Hier beruft man sich auf Leute wie den Schweizer „Reformpädagogen“ Jürgen Reichen (1939 – 2009) und auf den deutschen Grundschuldidaktiker Hans Brügelmann. Mit Hilfe einer bebilderten Anlaut- und Buchstabentabelle sowie einem „Buchstabentor“ (A/a für Affe und Ameise, Ch/ch für Chinese, I/i für Indianer und Igel, S/s für Sonne usw.) dürfen Schüler bis in die dritte Grundschulklasse hinein Lautketten bilden und so schreiben, wie sie hören. Das soll die Kinder „von Zwängen befreien“ und deren Lust am Schreiben und „sprachliche Kreativität“ fördern. „Kreativ“ geht dann so: „Wia gen in den tso.“ „Wi schaibst dueden?“ „Die Schulä fenkt an.“ Wenigstens damit wollen nun Länder wie Baden-Württemberg (gegen den Protest „grüner“ Lehrer), NRW, Schleswig-Holstein und Hamburg Schluss machen. Andere Länder, vor allem Bayern und Sachsen, haben wenigstens diesen Unsinn von Anbeginn an verhaltener mitgemacht. Ja, und dann kam noch die Rechtschreib-Reform: Diese wurde nicht nach sprachlogischen Kriterien inszeniert, sondern sie war orientiert an der Frage, wie Schüler weniger Fehler machen könnten. Rechtschreibung wurde solchermaßen infantilisiert und zum Kniefall vor der fortschreitenden Analphabetisierung der Gesellschaft. Schlechtschreibung.

Müssen wir uns da wundern, wenn das junge Volk „erkannt“ hat, dass Rechtschreibung etwas Beliebiges ist und dass man ganz individuell „kreativ“ schreiben darf? Von der Sprachbarbarei, die über die nur noch rudimentäre Sprache der SMSer, WhatsApper und Twitterer auf uns und unsere Kinder herunterprasselt, ganz zu schweigen. Schlechtschreibung.

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Die Folgen kann man tagtäglich besichtigen, immer häufiger auch wissenschaftlich-statistisch belegt. Sehr aufschlussreich ist etwa die Untersuchung von Wolfgang Steinig aus dem Jahr 2009. (Titel: „Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002“) Der Autor hatte zusammen mit Co-Autoren eine Längsschnittstudie durchgeführt. Darin verglichen sie anhand eines identischen Textes von 100 Wörtern die Fehlerhäufigkeit von Viertklässlern im Jahr 1972 mit der Fehlerhäufigkeit von Viertklässlern des Jahres 2002. Ergebnis: Im gleichen Text machten die Schüler im Jahr 1972 im Schnitt 6,9 Fehler, im Jahr 2002 12,2 Fehler. Auch im „IQB-Bildungstrend 2015 – Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich“, veröffentlicht im Oktober 2016, bestätigt sich dieses Desaster. Im Teilbereich Rechtschreibung erreichten in Deutschland 67,9 Prozent die Regelstandards. Spitzenreiter war Bayern mit einer Quote von 76,7 Prozent. Ganz hinten lagen Bremen mit nur 54,0 Prozent, Berlin mit 59,7 Prozent und Hamburg mit 60,6 Prozent. Apropos Regelstandards: Sehr anspruchsvoll waren diese Standards ohnehin nicht. Der Rechtschreibtest bestand aus einem Lückentext mit 28 Lücken, in die etwa folgende Wörter richtig geschrieben einzusetzen waren: unendlich, gereizt, nachts, Wasservorrat, relativ, Beschluss. Schlechtschreibung.
Form und Inhalt

Wolfgang Steinig hat soeben die Ergebnisse einer interessanten Umfrage vorgelegt (Titel: „Grundschulkulturen: Pädagogik – Didaktik – Politik“). Er hatte im Frühjahr 2015 eine bundesweite Umfrage an Grundschulen gestartet. Eine der erschreckendsten Erkenntnisse: Nur ein knappes Drittel (31 Prozent) der Grundschulen gibt an, dass man dort relativ viel Wert auf Rechtschreibung lege. Steinig berichtet ferner davon, dass ein lockerer Umgang zwischen Lehrern und Schülern mit schwachen Rechtschreibleistungen korreliere bzw. dass die Rechtschreibleistung umso besser sei, je förmlicher der Umgang zwischen Lehrern und Schülern sei. Auf die Form kommt es an, offenbar sogar im Pädagogischen!

Das habt Ihr nun davon, liebe Reformer. Generationen von Schülern habt Ihr als Versuchskaninchen missbraucht und ins Schlechtschreib-Nirwana geführt. Vor allem aber habt Ihr als wahrhaft große Klassenkämpfer damit gerade die Kinder aus sozial schwächeren Schichten in deren Herkunftsmilieus eingesperrt. Tolle Reform. Wenn Ihr wenigstens einen Rest an lernpsychologischem Verstand gehabt hättet, dann hättet Ihr gewusst: In allen menschlichen Bereichen ist es ist leichter, etwas gleich richtig zu lernen, anstatt es erst falsch zu lernen und dann umlernen zu müssen.


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.

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