Immer mehr junge Leute fallen bei der Abiturprüfung durch. Im Abiturjahrgang 2009 gab es laut Statistik der Kultusministerkonferenz 2,34 Prozent Durchfaller im Abitur, 2017 dann 3,78 Prozent. Für progressive Abitur-Vollkasko-Fanatiker ist das eine Katastrophe. Aber auch für anspruchsvolle Bildungspolitiker ist es kein Grund, sich zurückzulehnen und zu sagen: Da, seht mal, wir werden strenger.
Tatsache ist: In mittlerweile 15 der 16 deutschen Länder gibt es keine Hürde mehr beim Zugang zum Gymnasium. Nur Bayern ist (noch?) etwas strenger. Allein die (manchmal überehrgeizigen, narzisstisch gepolten) Eltern entscheiden in diesen 15 Ländern über den Gymnasialbesuch. Folge: Immer mehr Schüler, die auf anderen Schuldampfern besser fahren würden, strömen ins Gymnasium und bleiben dort überfordert. Man gaukelt ihnen vor, sie wären gymnasialgeeignet. Da die Politik aber „Gerechtigkeit“ und keine „Selektivität“ will, senkt sie die Ansprüche. Mit mehrmals einer Fünf oder mittels Nachprüfung kann man ja immer noch in die nächsthöhere Klassenstufe aufsteigen. Man wird einfach bis zum bösen Erwachen zum Abitur durchgeschoben. Also kein Grund für Alarmismus! Was sind schon 3,78 Prozent? Bei Führerscheinprüfungen haben wir in der Theorieprüfung 36,8 Prozent Durchfaller.
Abitur als ungedeckter Scheck
Der Mensch beginnt beim Abitur. Das scheint der oberste bildungspolitische Grundsatz in dieser unserer Bildungsrepublik, vormals Bildungsnation, zu sein.
Denn: Die Abitur- und Studierberechtigtenquoten steigen und steigen. Insgesamt erhöhten sich bundesweit die Anteile an Studienberechtigten (die nicht immer Studierbefähigte sind) unter allen Schülern eines Geburtsjahrganges dramatisch: Erhielten in den 1950er Jahren nur rund vier Prozent ein Abiturzeugnis, und gab es zu Beginn der 1960er Jahre rund 7 Prozent Studienberechtigte, so liegen die Berechtigtenquoten mittlerweile – Universitäts- und Fachhochschulreife zusammengerechnet – bei annährend 50, in manchen deutschen Ländern bei weit über 50 Prozent.
Und die Folgen? Mitte der 1990er Jahre hatten wir in Deutschland pro Jahr rund 250.000 Studienanfänger; heute haben wir pro Jahr rund 520.000. Seit 2014 haben wir pro Jahr mehr Studienanfänger als Anfänger einer beruflichen Ausbildung. Für berufliche Bildung haben wir 330 Berufsbildungsordnungen; für das Studium haben wir 18.000 Studienordnungen (als Ergebnis des sog. Bologna-Prozesses). Verkürzt gesagt: Das Gymnasium ist zur Hauptschule geworden. Und die Hochschulen müssen für Erstsemester Liftkurse einrichten, weil sie oft nicht mehr das mitbringen, was sie aus der Schule mitbringen müssten.
Hinzu kommt: Die Durchschnittsnoten werden immer besser. Der Anteil der 1,0 und der 1,X-Abiturzeugnisse wird immer höher. Konkreter: Die durchschnittlichen Abiturnoten ganzer deutscher Länder, einzelner Schulen ohnehin, tendieren in Richtung 2,2 oder gar 2,0. Außerdem haben mittlerweile komplette Bundesländer Abiturdurchschnittsnoten von 2,16 (z.B. Thüringen). Aus Nordrhein-Westfalen wissen wir, dass sich die Zahl der Abiturienten mit der Note 1,0 von 370 im Jahr 2002 über 455 im Jahr 2007 auf exakt 1.000 im Jahr 2011 mehr als verdreifacht bzw. verdoppelt hat. In Berlin hat sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse von 17 im Jahr 2002 auf 234 im Jahr 2012 erhöht (das ist das annähernd Vierzehnfache). Noch konkreter: Bundesweit hat sich der Anteil der jungen Leute mit Abitur-Note von 1,4 und besser im Vergleich 2007/2017 von 1,7 auf 3,3 Prozent erhöht; in Ländern wie Brandenburg 1,8 auf 5,3, in Thüringen von 2,8 auf 5,3, in Bayern von 1,3 auf 3,1, im offenbar strengeren Niedersachsen nur von 0,8 auf 1,9 Prozent.
Schlussresümee: Dass es jetzt ein paar Durchfaller mehr gibt, ist keine Katastrophe.