Wer kennt sie nicht, die Familienfeiern anlässlich eines besonderen runden Geburtstags oder einer Hochzeit oder eines hochkarätigen Ehejubiläums? Man trifft sich, weiß aber vorher schon, dass man eigentlich nicht gerne hingeht; weiß vorher auch, wen man eigentlich nicht treffen möchte; man verhält sich dementsprechend, lässt Spitzen los, rauft sich mühsam zu einem Rest an Contenance auf, geht nach wenigen Stunden auseinander und wieder seines eigenen Weges.
Mit dem zweitägigen Nato-Gipfel in London war es kaum anders. Sieht man vom Jubiläumsempfang bei der Queen einmal ab, dann saßen die Repräsentanten der 29 Nato-Mitglieder ganze zwei Stunden komplett beisammen. Alles andere waren mal hier mal dort Gesprächshäppchen unter vier oder sechs oder acht Augen.
Alles halbwegs Wichtige hatte bereits vorher stattgefunden, oder es fand vor der zweistündigen Aussprache vor Ort statt: Frankreichs ehrgeiziger Staatspräsident Macron hatte die Nato für „hirntot“ erklärt. Der türkische Potentat Erdogan wiederum blaffte Macron am Freitag vor dem Londoner Treffen bei einem Auftritt an der Istanbuler Universität aus der Ferne wegen dessen „oberflächlicher und unerfahrener Betrachtung des Terrorismus“ (gemeint ist die syrische Kurdenmiliz YPG) an: „Herr Macron, sehen Sie, ich sage es aus der Türkei und ich werde bei der Nato wiederholen: Lassen Sie erstmal Ihren Hirntod überprüfen.“ Mittendrinn US-Präsident Trump – wendig wie eh und je: Respektlos und beleidigend seien Macrons Äußerungen gewesen, sagte da einer, der die Nato auch schon mal für überholt erklärt und den Austritt Amerikas erwogen hatte.
Nur zwei Seiten: Die Abschlusserklärung hat es trotz Lücken in sich
Als die Staats- und Regierungschefs in London eintrafen, stand die nur zwei Seiten umfassende Abschlusserklärung schon. Darin bekennen sich die Nato-Mitglieder zur Partnerschaft und zur Beistandspflicht nach Artikel 5 des Nato-Vertrages („Bündnisfall“). Außerdem erneuern sie – wie erstmals übrigens 2002 in Prag – das Zwei-Prozent-Ausgabenziel und die Doppelstrategie gegenüber Russland: Abschreckung und Dialog. Auch Macron hat zugestimmt, wiewohl er kurz zuvor vor einem Feindbild von Russland gewarnt hatte.
Wie aber mit Russland umgehen? Dazu geben die zwei Seiten nichts sonderlich Konkretes her. Das Verhältnis der Nato zu Russland bleibt unterkühlt. Das hat mit der Nato-Osterweiterung, mit Russlands Einverleibung der Krim sowie mit dem russischen Einmarsch in Georgien und in die Ost-Ukraine, mit dem Gefühl der Bedrohung durch Russland in Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, der Slowakei und vor allen in den Baltischen Staaten, aber auch mit den Sanktionen gegen Russland zu tun. Hier muss an einem Tauwetter gearbeitet werden. Eine umsichtige Wiederbelebung des Nato-Russland-Rates wäre hierfür eine Chance ebenso wie zumindest der Gedanke, aus dem G7- wieder einen G8-Gipfel mit Russland zu machen.
Und was kommt von der Bundesregierung? Außenminister Heiko Maas hatte zwei Wochen vor „London“ dafür geworben, eine Expertengruppe einzusetzen, die über eine bessere Abstimmung der Partner nachdenken soll. Die Staats- und Regierungschefs verlangen vom Nato-Generalsekretär nun einen Vorschlag für einen „nach vorne gerichteten Reflexionsprozess“. Man ist versucht zu sagen: Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründ‘ ich einen Arbeitskreis (vulgo: eine „task force“). Also doch außer Spesen nichts gewesen?
Familienfeier hin, Zoff her: Es gibt auf lange Sicht keine Alternative zur Nato. Die Welt ist mit dem Zusammenbrechen der Sowjetunion vor knapp drei Jahrzehnten nicht sicherer geworden. Die „Friedensdividende“ ist längst verfrühstückt, wir sind nicht am Ende der Geschichte angekommen, mit der weltweit eine liberale Ordnung gesiegt hätte. Freiheit und Sicherheit sind auch im 21. Jahrhundert nur im Verbund zu haben. Die Nato hat dies jetzt sieben Jahrzehnte lang bewiesen. Deshalb ist die Existenz der Nato im Interesse der Weltgemeinschaft, namentlich der UNO. Denn wer sonst kann ein robustes – friedensicherndes oder friedenerzwingendes – Mandat im Auftrag der UNO übernehmen außer der Nato? Ansonsten können wohl nur die drei ganz Großen ihre Sicherheit selbst garantieren: die USA, China und Russland. Europa sollte als vierter hinzustoßen. Sollte? Nein, muss! Denn die USA werden sich wegen Chinas nicht nur wirtschaftlichen, sondern militärischen Expansionsdrangs zwangsläufig stärker im pazifischen Raum engagieren (müssen). Die Europäer müssen sich hier mehr auf die Hinterbeine stellen – und zwar erst einmal durch eine Stärkung ihrer nationalen Armeen und zugleich durch eine bessere Abstimmung vor allem der Briten, der Franzosen und der Deutschen auf Augenhöhe. Hier kann es keinen einzelnen Koch (Macron) und sonst nur Kellner geben.