Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) und die Joachim Herz Stiftung stellen mit ihrem „MINT Nachwuchsbarometer 2023“ den deutschen Grundschulen ein schlechtes Zeugnis aus. Die Studie wurde betreut von einem der führenden deutschen Bildungsforscher: Professor Olaf Köller vom Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) der Universität Kiel. Empirische Basis waren die IQB-Studien der Jahre 2011, 2016 und 2021 zu den Schulleistungen der Viertklässler. (IQB = Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen.)
Hier die wichtigsten Kernbefunde aus der 32 Seiten umfassenden Studie:
- Die Mathematik-Testleistung der Viertklässler fiel von 500 (2011) auf 462 (2021) Punkte. Das entspricht in etwa dem Lernvolumen eines ganzen Schuljahres. „Corona“ hat das ab 2020 zusätzlich verschärft.
- Die Geschlechterunterschiede bei den mathematischen Leistungen nahmen während der letzten zehn Jahre erheblich zu. In der 4. Klasse haben Jungen bei der Testung 2021 gegenüber Mädchen einen Leistungsvorsprung von rund 15 Lernwochen; 2011 waren es 11 Lernwochen. 15 Wochen entsprechen in etwa 40 Prozent eines Schuljahres; 11 Wochen in etwas 30 Prozent eines Schuljahres.
- 22 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler wurden 2021 im Fach Mathematik der sogenannten Risikogruppe zugeordnet – seit 2011 ist das beinahe eine Verdopplung. Die kleinste Risikogruppe mit 13 Prozent weist Bayern auf, die größte mit mehr als 35 Prozent Bremen. Zum Teil gingen diese Unterschiede auf den höheren Anteil von Kindern aus sozial schwachen Familien in Bremen zurück, allerdings werden in Bayern auch deutlich mehr Unterrichtsstunden in Mathematik erteilt.
- Der Leistungsabstand in Mathematik von Kindern mit Migrationshintergrund der ersten Generation zu Kindern ohne Migrationshintergrund entsprach 2021 fast eineinhalb Schuljahre. Konkret: Die Mathe-Leistung von Schülern ohne Migrationshintergrund fiel von 2011 auf 2021 von 515 auf 487 Punkte. Bei Schülern mit Migrationshintergrund der 2. Generation (also der hier geborenen) fiel die Leistung von 461 auf 434 Punkte. Bei Schülern mit Migrationshintergrund der 1. Generation (also im Ausland geboren) fiel die Leistung von 460 auf 400 Punkte.
- Gerade in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik fehlt es massiv an Lehrern. Obwohl mehr Oberstufenschüler Informatik als Profilfach wählen, bleiben sie prozentual eine Nischengruppe. Insgesamt begannen 2021 bundesweit zwölf Prozent weniger Studierende ein MINT-Lehramtsstudium als im Vorjahr – in der Informatik beträgt der Rückgang sogar 23 Prozent.
Bildungsforscher Olaf Köller ist alarmiert und sieht gravierende volkswirtschaftliche Schäden. Er verweist auf eine bildungsökonomische Simulation des „ifo Instituts“ in München. Dieser zufolge steht die Größe der Risikogruppe in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum. Köller wirbt für einen Wandel. „Dass wir viele Mädchen früh für die MINT-Bildung verlieren, sollten wir – schon wegen des Fachkräftemangels – nicht hinnehmen“, sagte er der FAZ. Der MINT-Bereich werde von vielen, häufig unbewusst und ungewollt, als eher männlich wahrgenommen. „Es sollten Anstrengungen unternommen werden, um diese wirkmächtigen Geschlechterstereotype zu überkommen.“ Köllner verlangt von den Ländern eine Erhöhung der Mathematikstunden, wirksame Förderangebote, sogenannte Lernferien mit Ferienkursen für schwache Schüler. Das „MINT Nachwuchsbarometer“ verweist hier auf signifikante Erfolge durch einen Ferienkurs in Mathematik für Viertklässler.
Dem nicht genug: Bei dieser Studie handelt es sich um eine innerdeutsche Diagnose. Nicht berücksichtigt ist dabei, dass Deutschland in internationalen Schulleitungsvergleichen bestenfalls im Mittelfeld abschneidet und deshalb im globalem Wettbewerb mehr und mehr hinter die eifrigen und fleißigen Ostasiaten zurückfällt. Siehe das TE-Interview vom 5. Juli 2021 mit dem am 16. Februar 2023 verstorbenen Demographieforscher Gunnar Heinsohn.