Es ist das alte Lied, ja das alte Leid der Politik: Sie denkt selten über das Ende einer Amtszeit bzw. einer Legislaturperiode hinaus. Also konzentriert sich die Politik nach einer erfolgreichen Wahl gerne auf die kommenden vier Jahre (Bundestagswahl), fünf Jahre (die meisten Landtagswahlen) oder sechs Jahre (die meisten Kommunalwahlen). Wenn man diese vier oder fünf oder sechs Jahre echt nutzte, denn kaum ist die Hälfte einer Amtszeit vorbei, spekuliert man, wie man mit Gefälligkeiten, ja mit populistischer Politik die Chancen einer Wiederwahl verbessern könnte.
Womit wir bei einem Dauerbrenner der Bildungspolitik sind: dem Lehrermangel. Man konnte es vor zwei bis drei Jahrzehnten wissen, aber die „hohe“ Politik wollte es nicht wissen. Wenn sie das Problem des Lehrermangels überhaupt in Ansätzen registrierte, dann kleisterte sie das Problem mit Flickwerkmaßnahmen zu. Es wurden Unterrichtsstunden gekürzt, die Lehrer wurden zu mehr Stunden verpflichtet usw. Damit all dies nicht auffiel und den Eltern sowie der Öffentlichkeit gefiel, wurden die Leistungsanforderungen abgesenkt und die Noten immer besser. Immer noch mehr Schüler wurden zum Abitur und zu einem Studium durchgeschoben.
Aber der Lehrermangel bleibt ein Dauerproblem. Denn das Reservoir an Tricks zum Retuschieren des Lehrermangels ist längst zulasten schulischer Bildungsansprüche ausgereizt. Es können nicht noch mehr Unterrichtsstunden gekürzt werden; und auch die Unterrichtspflichtzeit der Lehrer hat jedes sinnvolle Maß überschritten.
Kurz: Die Schulminister haben in puncto Personalplanung versagt, und sie versagen mit Blick auf die kommenden Schuljahre wieder. Dabei weist das Schulwesen zum einen sehr verlässliche Planzahlen aus; zum anderen ist der Lehrerbedarf sehr von politischen Setzungen abhängig.
Drei weitere Faktoren, die den Lehrerbedarf ausmachen, sind Ergebnis politischer Setzungen. Ein Rechenbeispiel: Im Wochenplan einer Klasse eine Unterrichtsstunde zu kürzen, eine Klasse im Schnitt um einen Schüler größer zu machen und von Lehrern eine Pflichtstunde pro Woche mehr zu verlangen, das reduziert den Lehrerbedarf um zehn Prozent. Anders ausgedrückt: Die Politik hat es in der Hand, den Lehrerbedarf auf längere Sicht hinaus zu berechnen oder – im negativen Sinn – auch zu manipulieren. Die Schulminister haben es hier insofern einfacher als die freie Wirtschaft, die aufgrund konjunktureller Schwankungen weniger verlässliche Planzahlen hat.
Es geht um fast eine Viertelmillion Lehrer innerhalb eines Jahrzehnts
Eines hat die „hohe“ Politik dennoch versäumt, nämlich dafür zu sorgen, dass es genügend Bewerber für ein Lehramt gibt. Man hat sich durchgewurstelt und auf jede lang- oder auch nur mittelfristige Personalplanung bzw. Personalanwerbung verzichtet. Das rächt sich jetzt – vor allem zulasten der Kinder und Jugendlichen.
Derzeit gibt es in Deutschland etwa 40.000 Schulen mit rund 10,9 Millionen Schülern, an allgemeinbildenden und an berufsbildenden Schulen rund 760.000 Lehrer (umgerechnet auf Vollzeitstellen). Aufgrund demographischer Entwicklungen (inklusive Zuwanderung) werden im Schuljahr 2025/26 etwa 800.000 Lehrer gebraucht, in den Schuljahren 2030 bis 2036 werden es gar 836.000 sein. Das ist dann ein Mehrbedarf von recht exakt 10 Prozent. 10 Prozent, könnte man sagen, was ist das schon! Nein, man darf nicht vergessen, dass von den jetzt aktiven Lehrern fast ein Viertel über 55 Jahre alt ist. Das wiederum heißt: Diese Lehrer (in Zahlen und bezogen auf Vollzeitstellen: 190.000) werden spätestens in den nächsten zehn bis 15 Jahren aus Altersgründen aus dem Lehrerberuf ausscheiden.
Rechnen wir zusammen: In den kommenden zehn bis zwanzig Jahren haben wir einen Mehrbedarf an bis zu 76.000 Lehrern und einen Ersatzbedarf an rund 190.000 Lehrern. Wir unterstellen einmal, dass den Schulministern die Brisanz dieser Zahlen nicht bewusst ist – oder dass sie sie verdrängen.
Was ist also zu tun? Es ist ein Bündel an kurz- und langfristigen Maßnahmen ist notwendig.
- Erst in 7 bis 8 Jahren wird es greifen, wenn ab sofort mehr junge Leute unmittelbar nach ihrem Abitur für den Lehrerberuf gewonnen werden können. 7 bis 8 Jahre nämlich dauert es, bis ein Lehramtsstudium inklusive Referendariat abgeschlossen ist. Hierfür bedarf es einer großangelegten Imagewerbung für den Lehrerberuf – und Maßnahmen, die geeignete junge Leute anlocken und ungeeignete fernhalten.
- In 3 bis 4 Jahren greifen könnte eine Initiative, Studenten anderer Fächer unter Anrechnung bisher erbrachter Studienleistungen für ein „Umsatteln“ auf ein Lehramtsstudium mit anschließendem Referendariat zu gewinnen.
- In 1 bis 2 Jahren wirksam würde es, wenn Universitätsabsolventen schulaffiner Fächer mit Master oder Magister oder Diplom in ein Referendariat des Schuldienstes gelockt werden könnten – Stichwort: „Umsatteln/Quereinsteiger“.
- Sofort wirksam würden folgende drei Maßnahmen: Gewinnung von pensionierten Lehrern im Alter zwischen 65 und 70; Gewinnung von aktiven Lehrern für freiwillige Mehrarbeit; Gewinnung von Teilzeit-Lehrkräften für die Aufstockung der Zahl ihrer Unterrichtsstunden. Diese kurzfristig wirksamen Maßnahmen werden aber nur dann zahlenmäßig zum Erfolg führen, wenn sie finanziell attraktiv ausgestaltet sind.
Alles andere ist Flickwerk. Wenn etwa Schulministerien Headhunter ausschwärmen lassen, wenn über eine Vier-Tage-Schulwoche diskutiert wird. Wenn der fünfte Tag als digitalisierter Schultag zu Hause stattfinden soll. Wenn über eine Verkürzung einer 45-Minuten-Unterrichtsstunde auf 40 Minuten nachgedacht wird.
Ja, und dann sollte man – vorübergehend (!) – auch darüber nachdenken, ob man nicht da und dort, wo die Klassen noch halbwegs homogen und nicht multiethnisch höchst schwierig sind, eben diese Klassen etwas größer machen könnte. Es muss ja nicht jede dieser Klassen nur 20 oder 18 Schüler groß sein. Aber sie darf schon auch mal 28 oder 30 oder 33 Schüler stark sein. Das spart Lehrer. Im Übrigen ist Unterricht in einer etwas größeren Klasse immer noch besser als kein Unterricht oder ein Unterricht einer minderqualifizierten Quereinsteiger-Lehrkraft.
Alles in allem: Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich selten mit Ruhm bekleckert. Sie beschritt immer den Weg des geringsten Widerstandes, wenn es etwa um schulische Leistungsanforderungen ging. Oder aber sie machte sich – siehe Corona – weitgehend unsichtbar. Jetzt wird es Zeit, dass sich die KMK in Sachen Lehrerversorgung auf die Hinterbeine stellt und ihr Schritttempo beschleunigt. Damit sie endlich ihren Ruf ablegen kann, im Tempo einer „griechischen Landschildkröte“ zu arbeiten (so der damalige Bundesbildungsminister Möllemann, FDP) und „die reaktionärste Einrichtung der Bundesrepublik“ zu sein (so der damalige Bundeskanzler Kohl, CDU).