Tichys Einblick
"Verbale Mäßigung würde der Debatte guttun"

Inklusion: Geht es um Ideologie oder ums Kindeswohl?

Ein Mehr an Gemeinsamkeit von behinderten und nicht behinderten Menschen ist in allen gesellschaftlichen Bereichen denkbar, im Bildungsbereich sehr wohl wünschenswert. Dieses Mehr ist aber nur möglich, wenn die Wege der Inklusion vom Kindeswohl ausgehen sowie realistisch und frei von Egalisierungsabsichten sind.

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Zur Sache vorweg: In Deutschland besuchten zuletzt 321.801 Heranwachsende (davon rund zwei Drittel männlichen Geschlechts) eine der etwa 2.800 Förderschulen. Bezogen auf den Bereich der allgemeinbildenden Schulen sind dies rund 4,5 Prozent aller Schüler und damit vergleichbare Größenordnungen wie in Finnland (3,8 Prozent), Dänemark (4,4 Prozent) und in der Schweiz (5,4 Prozent). Rund 255.146 Schüler mit sonderschulischem Förderbedarf sind in Deutschland in einer Regelschule inkludiert.

Soweit ein paar trockene Zahlen. Seit etwa 2010 nun haben wir in Deutschland eine immer wieder aufflammende, oft recht aufgeheizte, hochideologische Debatte um „Inklusion“ (siehe unten), also um die Beschulung behinderter Heranwachsender im regulären Schulwesen.

Die Instrumentalisierung des Inklusionsgedankens

Die Deutungshoheit in Sachen Inklusion beanspruchen radikale Inklusionsverfechter. Sie sind jederzeit bereit, Leute, die Inklusion differenziert sehen, an den Pranger zu stellen. Dabei vertreten sie eine Interpretation von Inklusion, die ein undogmatisches oder auch nur gemäßigtes, praxisnahes Verständnis von Inklusion ausschließt.

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Verbale Mäßigung würde der Diskussion jedenfalls guttun. Das gilt auch für die Tendenz, mit verbalen Umetikettierungen eine Benachteiligung/Behinderung unsichtbar machen zu wollen. Andersheit ist schließlich kein bloßes soziales Konstrukt. Deshalb ist die von Befürwortern einer Radikalinklusion geforderte sog. Dekategorisierung ein Irrweg.

Dekategorisierung heißt: Die Behindertenkategorien körperlich, geistig, sensorisch, sprachlich, sozial-emotional usw. sollen verschwinden. Man will damit angeblich Diskriminierung vermeiden, vergeudet aber die Chance, einen Menschen ganz individuell zu betrachten bzw. einem Menschen individuell gerecht zu werden.

Deshalb ist es entgegen allen Bemühungen um Dekategorisierung sinnvoll und kindgerecht, von sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen auszugehen: körperlichen, geistigen, sensorischen, sprachlich sozial-emotional oder Behinderungen im Lernen. Das hat mit Diskriminierung nichts zu tun, denn diskriminieren heißt ja „unterscheiden“, also einen Menschen in seiner Singularität ernstnehmen. Andernfalls ignoriert man die besonderen Förderbedürfnisse der Betroffenen.

Vom Missbrauch einer UN-Konvention

Manche meinen, mit einer bestimmten UN-Resolution habe dem deutschen Förderschulwesen das Sterbeglöcklein geläutet. Der bloße Hinweis, die im Jahr 2009 von Deutschland ratifizierte UN-Konvention „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ schreibe totale Inklusion vor, reicht als Basis dafür aber nicht aus. Die UN-Konvention enthält keinerlei Passus, mit dem die Beschulung in Förderschulen als Diskriminierung betrachtet würde. Im Gegenteil:

Die UN-Konvention verlangt aber keineswegs die Schließung von Förderschulen. In diesem Sinne hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 2010 auf dem ersten Höhepunkt der Debatte um Inklusion eindeutig geäußert: „Die Behindertenrechtskonvention macht keine Vorgaben darüber, auf welche Weise gemeinsames Lernen zu realisieren ist. Aussagen zur Gliederung des Schulwesens enthält die Konvention nicht.“

Warum es die höchst individuell fördernden und von hochprofessionellem Lehrpersonal geführten deutschen Förderschulen wegen der UN-Konvention angeblich nicht mehr geben soll, erschließt sich keiner nüchternen Betrachtung, zumal man in Deutschland positive, wissenschaftlich begleitete Erfahrungen mit Inklusion gemacht hat, viele Eltern Betroffener diese Schulart wünschen und viele Länder der Welt froh wären, Förderschulen deutscher Art und Differenzierung zu haben.

Inklusion als Ziel ist richtig, als Weg kann es falsch sein

Das Ziel jeder behindertenpädagogischen Maßnahme ist unumstritten: Es geht um Zugehörigkeit und Teilhabe, es geht um die berufliche und soziale Eingliederung dieser jungen Menschen. In vielen Einzelfällen aber kann Inklusion der falsche Weg dorthin sein. Vor allem muss jede Behinderung individuell betrachtet werden, damit bei den betroffenen Kindern nicht am Ende ein Anpassungsdruck und ein Gefühl der Ausgrenzung entstehen. Es muss vermieden werden, dass Schüler mit Anforderungen konfrontiert werden, denen sie nicht gewachsen sind. Inklusion ist insofern nur dann im Sinne des Kindeswohls, wenn begründete Aussichten bestehen, dass ein Schüler das Bildungsziel der betreffenden Schulform – durchaus mittels Nachteilsausgleich – erreichen kann und die Regelklasse durch die Inklusion nicht über Gebühr beeinträchtigt wird.

„Bildungsnation“ Deutschland
Wenn in einer „freien“ Schule weder Schüler noch Lehrer da sind
Es kann keinen Automatismus geben – weder bei der Überweisung in eine Förderschule noch bei der Zuweisung in eine inklusive Klasse. Jede Behinderung ist zu spezifisch, als dass man auf differenzierte Diagnostik und Entscheidung verzichten könnte. Der individuelle Förderbedarf eines Kindes mit Trisomie 21 ist ein völlig anderer als der eines seh-, hör- oder motorisch beeinträchtigten Kindes.

Entsprechend der Art der Beeinträchtigung muss denn auch das Förderkonzept ausgerichtet werden: Wenn eine Behinderung bzw. Beeinträchtigung mit Hilfe technischer oder baulicher Mittel (Digitalisierung des Unterrichts, Aufzüge in Schulgebäuden, zusätzliche Räume usw.) bzw. mit Hilfe zusätzlicher Fachkräfte kompensiert werden kann, steht einer Inklusion nichts im Wege. Anders stellen sich die Möglichkeiten der Inklusion bei verhaltensauffälligen oder kognitiv beeinträchtigten Schülern dar.

Ein Mehr an Gemeinsamkeit von behinderten und nicht behinderten Menschen ist in allen gesellschaftlichen Bereichen denkbar, im Bildungsbereich sehr wohl wünschenswert. Dieses Mehr ist aber nur möglich, wenn die Wege der Inklusion vom Kindeswohl ausgehen sowie realistisch und frei von Egalisierungsabsichten sind. Es sollte der Grundsatz gelten: So viel Inklusion wie möglich – so viel Differenzierung wie nötig!

So, und was nun hat Höcke im MDR zur Inklusion gesagt?

Ein einzelner Satz des AfD-Manns Björn Höcke in einem MDR-Sommerinterview vom 9. August hat nun eine Riesenaufregung verursacht. Höcke hatte wörtlich gesagt: „Unter anderem müssen wir das Bildungssystem auch befreien von Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender-Mainstream-Ansatz … Alles das sind Projekte, die unsere Schüler nicht weiterbringen, die unsere Kinder nicht leistungsfähiger machen und die nicht dazu führen, dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen.“

Kaum waren diese zwei Sätze öffentlich geworden, setzte ein Sturm der Entrüstung ein. Von „Entsetzen“ war bei Behindertenvereinen, Gewerkschaften und Sozialverbänden die Rede, ein Verein sprach von einem „Angriff auf die Menschenwürde“. Münchens Ex-Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) wusste sich argumentativ gar nicht mehr zu helfen. Statt sich (siehe oben) differenziert mit dem Inklusionsthema zu befassen, sagte er laut Süddeutscher Zeitung: Höckes Äußerung sei ein „Rückfall in die Barbarei“. Und: „Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion.“

Aber, und hier hat die renommierte FAZ-Bildungsjournalistin Heike Schmoll Recht: „… Empörung allein genügt nicht. Denn die AfD greift mit sicherem Gespür Themen auf, über die inzwischen nur noch schwer sachlich diskutiert werden kann. Die Inklusion gehört dazu. Der gemeinsame Unterricht an einer Regelschule ist kein Wert an sich, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Im schlimmsten Fall kommt es inmitten eines gemeinsamen Klassenraums zur Ausgrenzung. Und es gibt Kinder mit emotional-sozialem Förderbedarf, denen mit einer zeitlich befristeten Spezialförderung mehr geholfen ist als mit einer Inklusion um jeden Preis. Das widerspricht nicht etwa der UN-Menschenrechtskonvention, wie manche meinen, die sie offenbar nicht gelesen haben.“

Wenn öffentliche Debatte sich nur noch „ad hominem“ (an der Sache vorbei gegen die Person) erschöpft, statt ein Thema sachlich differenziert und rational kritisch zu diskutieren, dann ist es um die Diskurskultur sehr schlecht bestellt. Dann gilt womöglich eines Tages „2 plus 2 ist 5“, weil ein Höcke sagt: „2 plus 2 ist 4.“


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